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Manfred Mohr: Algorithmiker

von Frieder Nake

Wenige Künstler sind so deutlich wie Manfred Mohr der Kunstkritik und -geschichte dabei behilflich, das eigene Werk zu ordnen. Werkphasen legt er fest, Serien, Computerprogramme, knappe Beschreibungen der material-algorithmischen Entscheidungen seiner Produktion liefert er, systematische Kataloge in einheitlichem Design.
Seit Jahren haben sich namhafte Kunstkritiker, Theoretiker, Galeristen und Künstler in den Katalogen seiner Ausstellungen mit Mohrs êtres graphiques auseinandergesetzt. Ist zu erwarten, dass ich den Einsichten dieser Autoren Wesentliches hinzufügen könnte? Das erscheint mir recht zweifelhaft und der Versuch könnte desaströs ausgehen. Dennoch ergreife ich die Gelegenheit mit Freude und Begeisterung — nicht alle Tage kann sich der Informatiker in einem Kunstkatalog äussern. Zum Ende des Essays will ich auf die kulturgeschichtliche Situation zurückkommen, die dies zu ermöglichen scheint — ja geradezu geboten erscheinen lässt.
Im Katalog der Ausstellung Algorithmische Arbeiteng (Frühjahr 1998, Bottrop) sagt Manfred Mohr zu den Bildern seiner Werkphase Half-Planes: "Diese Formen ... erzählen von einem nicht fassbaren, aber dennoch berechenbaren 6-D Raum". Ein Satz, in den man hineinhorchen kann.

Fassbar. Berechenbar
erzähleng also etwas, diese Bilder. Man muss sie sich in Serie an grossen weissen Wänden vorstellen. Denn sie gehören zusammen, sind als einzelne nicht mehr als Momente, Aspekte oder Beispiele eines Ganzen. In der Gesamtschau aber, wenn wir Thema und Kontext erst einmal erfahren haben: "Sechsdimensionaler Raum und Hyperwürfel", ahnen wir durchaus etwas von jenem Erzählen, das sich bei unserem versenkenden Betrachten auftut.
Nicht fassbarg, sagt Mohr, sei dieser Raum, und dennoch berechenbar. Da haben wir unser Thema, das Thema des Künstlers Manfred Mohr! Wir wollen das ein wenig ausdehnen.
Nicht fassbar, aber berechenbarg! Eine erstaunliche Bemerkung. Wäre das, was berechenbar ist, nicht jenes, das wir besser und genauer kaum fassen können? Was bleibt geheimnisvoll und nicht fassbar an einem Phänomen, das berechenbar geworden ist? Ist etwas berechenbar geworden, so lässt es sich doch maschinell herstellen. Was sich maschinell herstellen lässt, ist völlig beherrschbar geworden, hat seine Mythen verloren, ist zu reiner Syntax geworden. Ist es nicht so?
Und doch hat Manfred Mohr Recht mit seiner Bemerkung zur Unfassbarkeit des sechsdimensionalen Raumes und des Würfels darin. Wir können ihn nämlich in Gedankeng sehr wohl, mit den Sinnen und dem Körper aber gar nicht, erfassen. Schlimmer noch: Mathematiker haben den vieldimensionalen Raum als eine ihrer grandiosen Erfindungen geschaffen. Es gibt ihn — in einem ontologischen Sinn von geben — nur und ausschliesslich in Gedanken. Jeder Versuch, ihn körperlich zu erfahren, zu umwandeln, zu fassen, ist Unsinn und Blödsinn.
Denn der Raum, an den wir hier denken, den wir denkeng (so würde David Hilbert sich vielleicht ausdrücken), ist eine rein schematische Fortsetzung des Versuches, die drei Dimensionen der körperlichen Erfahrungswelt präzise und für die Berechnung zu beschreiben. Breite, Länge und Höhe sind uns gut zugänglich, weil wir mit unserem Körper und seinen Sinnen nach rechts und links, nach vorn und hinten, nach oben und unten gehen können. Wir tun dies ständig und unaufhörlich von der ersten Minute unseres Lebens an. Wir tun es so sehr, dass wir davon träumen müssen.
Im Begriff des cartesischen Raumes ist es gelungen, diese Verhältnisse zu formalisieren. Die Formalisierung führte Descartes sogleich auch dazu, eine tiefgreifende Analogie zwischen messender Geometrie und zählender Arithmetik zu entdecken. Seine Analogie gelingt mit der Erfindung des Koordinatensystems. Es macht aus Formen Zahlen und mathematische Funktionen, Qualität wird Quantität. Die Hand, die eine Form streichelt, wird zu einer Reihe von Fingern, die zählen und bald schon nur noch Symbole manipulieren. Welche Kühnheit und Klarheit!
Ist die Mathematik aber erst einmal dazu vorgedrungen, jeden Punkt des dreidimensionalen Erfahrungsraumes durch drei Zahlen exakt zu beschreiben, so gibt es keinen Grund, einen Vektor von vier Zahlen nicht als Repräsentanten eines Punktes in einem nun plötzlich auftauchenden vierdimensionalen Raum zu nehmen. Fünf Zahlen repräsentieren dann die Punkte des fünfdimensionalen, sechs die des sechsdimensionalen und ng Zahlen die des n-dimensionalen Raumes. Dieser wird somit gesetzt, erdacht, geschaffen, als ein reines Gedankengebilde, in dem man rechnen kann. Der totalen Präzision des Gedankens entspricht die totale Entfremdung von den Sinnes-Erfahrungen. Nichts kann das Auge, nichts irgendein anderer Sinn dort ausrichten. Nicht fassbar unseren Sinnen, aber berechenbar unserem Verstand: So liegen die Dinge mit den höheren Dimensionen, ob es nun vier, sechs oder mehr seien. So abenteuerlich grandios dieser Schritt ist, so sehr er eine Welt aufgestossen hat, die noch heute den meisten Menschen fremd ist — einen Vorrang des Gedankens vor den Sinnen kann ich darin nicht erblicken. Allerdings auch keinen Vorrang der Sinne vor dem Gedanken. Beide gehören zu uns, zu unseren Fähigkeiten, und die beliebte Vorrang-Frage, die so gern aus der Ferne zur Mathematik heraus gestellt wird, zeigt eigentlich nur die Armseligkeit und Beschränktheit des Fragenden.

Im Raum
Mit dem sechsdimensionalen Hyperwürfel also setzt sich Manfred Mohr seit längerem auseinander. Er dürfte neben wenigen anderen zu jener Zahl von Menschen gehören, die zwar auch nicht in die sechste Dimension entfliehen können, die aber durch langjährige intensive Tätigkeit eine tiefe Intuition von den Verhältnissen in jenem Raum erworben haben. Denn zu einer Einsichtg des geistigen Auges können wir auch dort gelangen, wo die Sicht des körperlichen Auges fehlt. Bekannt sind die Darlegungen, die an unserer körperlichen Erfahrung ansetzen und im Analogieschluss aus zwei und drei in vier und mehr Dimensionen hinein führen, uns dorthin entführen.(1) Solche Gedankengänge sind uns auch hier abverlangt. Manfred Mohr ist ihnen so oft und so weit gefolgt, dass er uns mit Mitteln des Bildes einiges zeigen kann von dem, was es dort staunend bei geschlossenen Augen zu sehen gibt. Seine Bilder erzählen aus jener, wie wir manchmal meinen, kalten Welt der Mathematik.
Schon wahr — als spröde und streng, gleichzeitig aber auch als vielfältig und überraschend werden viele die formalen Liniengebilde empfinden, für die Manfred Mohr bekannt geworden ist. Spröde sind sie aber nur insofern, als sie etwas darstellen, das den meisten von uns unbekannt ist.
Meine Aufgabe kann es nicht sein, kunstgeschichtliche Betrachtungen anzustellen. Doch die Verwandtschaft mit vielen anderen Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts ist auffällig. Auf den Leinwänden sehen wir Linien und Flächen und Farben und sie sagen uns erst einmal nichts, bis ein Kontext angesprochen wird, der dem Sinnesangebot einen Sinn zuschiessen lässt. Hier bei Mohr ist das der sechsdimensionale Hyperwürfel, der dem Künstler zu einer ästhetischen Heimat geworden sein mag.
Die Formen der bisherigen Werke Manfred Mohrs aus ungefähr dreissig Jahren sind, ganz äusserlich betrachtet, schwarze und graue Linien in strenger Geradlinigkeit auf weissem, manchmal grauem Hintergrund. Der Farbe hatte er abgeschworen, um nur noch andere Verhältnisse zu erforschen. Wie das gesamte spätere Werk von Josef Albers von ihm selbst als Erforschung der Interaktion von Farbe gekennzeichnet wurde, so liesse sich Manfred Mohrs bildnerisches Schaffen von etwa 1970 bis 2000 als Erforschung der Interaktion von geraden Linien, von bestimmten Formen also, kennzeichnen. Folgerichtig führen diese Expeditionen dann auch dazu, dass das Werk von innen heraus seine äussere Form bestimmt: die naheliegende Quadratfläche des Bilderrahmens verschwindet hinter bizarren Rändern, das Werk wird zum Zeichen seiner selbst: ein Index in strengster Bindung an seine Herkunft.
Manfred Mohr selbst, Mihai Nadin und andere ebenso, haben auf die Herkunft seines Denkens aus dem Feld von Max Bense (1910-1990) und der Stuttgarter Schule hingewiesen. Das bedeutet Vieles und sehr Unterschiedliches. Zwei Momente hat Mohr selbst mehrfach betont: erstens den Gedanken der generativen Kunstg, den Bense mit dem Aufkommen der Computerkunst 1965 in einem kurzen Text zu Ehren von Georg Nees formulierte. Generative Kunst wäre Manfred Mohr ein bevorzugter Begriff gegen die verhasste Computerkunst, die sich als Wort durchgesetzt hat. Zweitens ist die semiotische Auffassung der Kunst bedeutsam. Ihr sollen die folgenden Absätze gewidmet sein.

Werk und Kunstwerk
Der Künstler schafft ein Werkg. Nur ein Werk, sei betont. Die anderen machen vielleicht ein Kunstwerk daraus. Was der Künstler schafft, ist nicht Kunst, sondern Anlass für Kunst: möglicherweise wird das Werk zur Kunst. Der Künstler ist ein Ermöglicher, kein Vollender. Manchmal aber liest man auch heute noch das Gegenteil. Künstler rächen sich dafür, indem sie die Antwort auf die Frage nach der Aussage verweigern, die wir in ihren Bildern entdecken können sollen. Manfred Mohr ist solch einer. In seinem aufgeräumten Studio in New York ordnet er.
Wann immer etwas geschieht, so hat es eine Herkunftg und eine Ankunft. Das Geschehen verbindet diese beiden. Das Geschehen schafft ein Verhältnis zwischen Herkunft und Ankunft.
Das Kunstgeschehen ist solch ein Verhältnis zwischen Künstler und Betrachter. Der Künstler stellt Ordnung her, der Betrachter baut sie ab. Die Herkunft, sagt Manfred Mohr, lässt sich präzise beschreiben; die Ankunft nicht. Wenigstens geht es ihm beim Herstellen von Bildern darum, dieses Herstellen präzise zu beschreiben. Was danach geschieht, muss man sehen. Man kann sehen, wie und was man will. Mal dieses, mal jenes.
Wenn wir das, was wir sehen, auch sagen, wird es ziemlich laut und vielstimmig und ein grosses Durcheinander sein und das ist auch ganz in Ordnung so, denn es kann ja, wie gesagt, gar nicht anders sein bei der Ankunft. Der Künstler ist ein Ermöglicher von Ankünften, wie auf dem Bahnhof oder auf dem Flugplatz, wenn der Zug eingefahren oder die Maschine gelandet ist und diejenigen, die auf diese Ankunft gewartet haben, nun in ein Stimmen- und Stimmungsgewirr verfallen. Die präzise beschreibbare Herkunft des Zuges oder Flugzeugs ist Anlass für ein grosses Durcheinander bei der Ankunft.
Wenn es auch so ist, dass der Künstler nur das Werk schafft und die Verwandlung des Werkes in ein Kunstwerk Sache der anderen bleibt — der Kritik, der Museen, der Verlage, der Händler, Käufer, Besucher, des Publikums eben in seiner ungeheuren Vielfalt —, so stehen Sinn und Trachten des Künstlers doch ganz auf Kunst. Er möchte ja, dass sein Werk als Kunstwerk anerkannt werde, und selten wird er sich mit der Rolle des Sonntagsmalers zufrieden geben. Wie er sich aber auch anstrengt, die Kunst an seinem Werk ist Sache der Einordnung des Werkes in die Kunstgeschichte und nicht Sache der Ordnung des Werkes. Aussen und Innen. Die Ordnung im Werk ist Anlass für die Einordnung in die Kunst. Zwar geht es in der Gesellschaft so säuberlich getrennt nicht zu. Doch als Beschreibung ist es so nützlich.
Das Kunstgeschehen ist ein Verhältnis von Herkunft und Ankunft, ein kommunikatives Verhältnis also. Als solches aber ist es semiotisch fassbar.

Kunst setzt Zeichen
Wir sagen: Kunst setzt Zeicheng. Sie setzt Zeichen, weil und indem sie Künstler und Betrachter in ein Verhältnis zueinander bringt. Das Zeichen ist das, was an diesem Verhältnis beschreibbar ist, wenigstens in Grenzen.
Mit Charles Sanders Peirce (1839 bis 1914) fassen wir das Zeichen als eine Relation auf, in der ein Repräsentameng für ein Objekt steht vermittels eines Interpretanten. Das Zeichen fasst eine Bezeichnung und eine Bedeutung zusammen. Im Zeichen treffen der Akt der Setzung eines bezeichnenden Mittels (Repräsentamen) für einen bezeichneten Gegenstand (Objekt) und der Akt der Interpretation des Verhältnisses von Bezeichner und Bezeichnetem durch eine Zuschreibung (Interpretant) aufeinander. Zeichensetzung (Bezeichnung) und Zeichendeutung (Bedeutung) sind aufs engste miteinander verwoben und lassen sich nur im Sprechen über das Zeichen voneinander trennen. Die eine kommt nicht ohne die andere vor und im Zeichen haben wir einen Begriff für das Hin und Her von Bezeichnung und Bedeutung, von Form und Sinn.
Das Wunderbare an Peirce' triadischem Begriff vom Zeichen ist dessen rekursiver Charakter. Wollen wir nämlich den geheimnisvollen Interpretanten eines Zeichens genauer fassen, so stellt sich heraus, dass er selbst wieder Zeichen ist. Nur als Zeichen lässt sich der Interpretant fassen, ausdrücken. Das aber setzt sich fort in unendlichen Ketten von Interpretanten, die unser nicht endendes Deuten darstellen, unseren Zwang zum Interpretieren. Die Vielschichtigkeit von Werken, die als Zeichen aufgefasst werden, erscheint so.
Der Interpretant entsteht durch einen Akt der Interpretation. Er kann andererseits vorgegeben werden durch einen Akt der Intention. Die Interpretation ist ein Akt des Betrachters. Die Intention ist ein Akt des Künstlers.
Die Zeichenrelation wird im Falle des Betrachtersg durch diese Begegnung mit einem materialen, wahrnehmbaren Ding gestiftet. Dieses Ding macht der Betrachter zu einem Repräsentamen, dem er sogleich eine Interpretation zukommen lässt, wodurch er einen Interpretanten schafft, der das verborgene Objekt mehr oder minder genau evoziert.
Die Zeichenrelation wird im Falle des Künstlersg durch die Begegnung mit einer idealen, denkbaren Absicht gestiftet. Diese Absicht macht der Künstler zu einem Interpretanten, dem er allmählich eine Form zukommen lässt, wozu er ein Repräsentamen schafft, das dem beabsichtigten Objekt mehr oder minder gut entspricht.
In beiden Richtungen aber lässt sich vom Repräsentamen recht gut in material-stofflichen Kategorien sprechen, vom Interpretanten nur in ideal-relationalen — also selbst wieder in Zeichen. Mit dem implizit rekursiven Begriff des Zeichens hat Peirce einen Vorschlag gemacht, der vermutlich erst heute in seiner Tragweite zu würdigen ist. Erst heute deswegen, weil nun mit der digitalen Technik und den digitalen Medien die Zeichen selbst einem Vorgang der Maschinisierung unterworfen worden sind, weil das digitale Medium, der Computer, die Artefakt gewordene Rekursivität selbst ist, die maschinisierte Rekursivität. Das wollen wir an Hand der vertrackten Zeichen Manfred Mohrs betrachten!

Algorithmische Zeichen
Wer über Mohrs Bilder schreibt, schreibt auch von Zeicheng. Ich vermute, das geschieht oft unter dem unmittelbaren Eindruck, den die starken schwarzen Linienkonglomerate auf weisser Wand bei jedem Betrachter hervorrufen, der sich nicht hinter seinen Geschmacksurteilen verbarrikadiert. Auf die selbst gestellte Frage "Was sind das?" geben wir uns die Antwort "Zeichen".
Doch wollen wir das tun, setzen wir unbewusst "Zeichen" gleich mit "Repräsentamen". Der Teil wird uns zum Ganzen. Die schwarzen Balken auf Weiss, die so machtvoll still wirken, werden aber Zeichen erst dadurch, dass sie bezeichnen und bedeuten. Hier kommt uns Manfred Mohr selbst zu Hilfe mit knappen Darlegungen über den Hyperwürfel in sechs Dimensionen, über dessen Diagonalen und die Wege entlang der Kanten des Hyperwürfels, die vom Anfangs- zum Endpunkt einer solchen Diagonale führen. Die verwinkelten Linien auf der zweidimensionalen Fläche des Bildes sind Projektionen von Würfelkanten aus dem sechsdimensionalen Raum. Die Objekte der Zeichen und deren Repräsentamina in Mohrs Bildern sind klar und eindeutig zu identifizieren. Sie zu deuten, ist dennoch eine Mühe wert.
Denn ohne den Hinweis auf den höherdimensionalen Raum wird kaum jemand das bezeichnete Objekt entdecken können und selbst dann ist es keine einfache Sache, die Verläufe der Linien mit der Dimension und Lage der Kanten in Übereinstimmung zu bringen, von denen sie herstammen. Darin eben zeigt sich die Kunst! Denn was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen (Wittgenstein): Repräsentamen und Objekt und projizierender Algorithmus zwischen beiden. Es gibt aber auch etwas darüber hinaus und dieses zeigt sichg je neu und anders: Interpretant.
Die feinere Analyse der Mohrschen Zeichen im Sinne der dreifachen Unterteilungen, die Peirce vorgeschlagen hat und die die Stuttgarter ausgebaut haben, bringt eine Vielfalt zu Tage. Linienqualität, Singularität und Gesetzmässigkeit — die Stufungen der Zeichen in der syntaktischen Dimension sind schön mit der algorithmischen Herkunft der Mohrschen Bilder zu begründen. Indexikalität und Ikonizität (semantische Dimension) weisen sie deutlich auf, aber auch Symbolik ist im Objektbezug der Zeichen Mohrs zu konstatieren. Rhematische wie dicentische und argumentische Momente im Interpretantenbezug (pragmatische Dimension): rhematisch die einzelne Linie, der einzelne Winkel; dicentisch das einzelne Bild, das sich erneut aus seiner algorithmischen Herkunft behaupten lässt; argumentisch aber die Serie, zu der das Bild gehört, und um deren kombinatorische Vollständigkeit es Manfred Mohr stets geht. Er betritt ja den sechsdimensionalen Hyperwürfel, um eine Stufe an Komplexität zu erreichen, die das Kombinieren und Auswählen spannend genug macht und die geeignet ist, was es zu zeigen gilt, in ästhetische Mehrdeutigkeiten einzukleiden.
Ich muss anmerken, dass Mohr viel zu sehr Künstler ist, als dass er uns leicht davonkommen liesse. Was er zeigt, ist stets durch die Struktur des abstrakten Gebildes Hyperwuerfel zusammengehalten. An sie denkt er wie an ein Gespenst, das durch die Bilder geistert und das wir ahnen. Im Einzelbild aber gibt er ausschnittsweise den Blick auf Teile, auf Untergruppen, auf Substrukturen frei. Das wirkt dann, als werde etwas versteckt.

Werk als Klasse
Wir kommen also beim geheimnislosen Geheimnis der Mohrschen Kunst an, bei der algorithmischen Herkunft der Linienarrangements. Wir haben ihren Gegenstand betrachtet, den mehrdimensionalen Hyperwürfel. Wir haben ihre Zeichenhaftigkeit angesprochen. Beide kommen zusammen in der algorithmischen Herstellung. Sie erscheint oft als das Wichtigste — zu Unrecht, wie Manfred Mohr nicht müde wird zu betonen. Und doch zu Recht, wie ich dazusetzen möchte.
Die Zeichen, die er ins Werk setzt: die Repräsentamina, die er für seine Objekte schafft, auf diese kommt es an, sie konstituieren die Werke. Es fiele unserem Künstler arg schwer, das ohne den Computer zu erreichen. Vom Prozess der Herstellung aus gesehen ist die algorithmische Seite also durchaus die hervorstechende. Von der Absicht und dem Ergebnis aus betrachtet tritt sie als unwichtig zurück. Präziser aber als durch einen Algorithmus lässt sich die Herkunft des Werkes nicht darlegen.
Die spröde Vielfalt, die überraschende Ausdruckskraft, die unmittelbare Zeichenart der Werke Manfred Mohrs besitzen starken inneren Zusammenhalt im Algorithmus, der die ganze Klasseg der Bilder einer Werkphase bestimmt. Dieser Künstler schafft Werke als Klassen. Seine Serien sind nicht Variation als Fingerübung, sondern Kombination als Geistesanstrengung. Das einzelne Bild steckt in einem (stillschweigenden oder ausgedrückten) Verbund mit anderen. Der Verbund ist ein geistiges Band, das kristallklar als präzises Vergnügen (Max Benses Wort) im Algorithmus formuliert vorliegt.
Der Computer ist für Manfred Mohr nicht beiläufiges Instrument. Er ist notwendiges Medium, um die Erzählung zu ermöglichen, die der Künstler im Algorithmus anlegt. Der Künstler als Algorithmiker, als Erzähler einer neuen Art. Er liefert uns Kunde von einer Welt, die Mathematikern wohl vertraut, uns anderen aber völlig fremd und unbekannt ist.

Wieder Farbe
Form. Algorithmus. Und Farbe? Ja — Farbe! Denn wenn Manfred Mohr vor bald vierzig Jahren beschloss, von nun an auf Farbe zu verzichten, so taucht sie jetzt, im Jahr 2000 wieder in seinen Bildern auf. Spröde. Krass. Befremdlich. Eben: algorithmisch. Er wird es uns selbst, wie stets, am knappsten und treffendsten erläutern. Wie ich es verstehe, verhält es sich so.
Wir bleiben im sechsdimensionalen Hyperwürfel. Wir bleiben bei dessen 32 inneren Diagonalen und den Kantenwegen, die von deren Start- zum Endpunkt führen. Es sind je 720. Diese Kantenwege allein werden nun aber nicht mehr gezeichnet. Sie geben, in Fortsetzung der algorithmischen Erforschung der schwarzen Linie, den Anlass für farbliche Flächen. Sie entstehen folgendermassen. Zwei Kantenwege werden durch ihre je sechs Kanten aufeinander bezogen, indem zwischen den Endpunkten der Kanten Verbindungslinien gezogen werden. So entstehen Vierecke, die eingefärbt und hinunter in die Bildebene projiziert werden. Ein strenger Ablauf, in den ein aleatorisches Moment durch die Auswahl von vier Kantenwegen (aus der Menge der 23040 möglichen Wege) einfliesst. (Wir können das Zustandekommen der Farbflächen noch abstrakter beschreiben, indem der Hyperwürfel durch einen Graphen ersetzt wird. Das soll hier unterbleiben.)
Die Farben werden aus einer Palette gewählt, die Manfred Mohr vorgibt. Eine kleine Verbindung hält er hier zur frühesten Phase der generativen Kunst Mitte der 60er Jahre: die Farben der Palette werden erwürfelt; gefällt ihm das Ergebnis nicht, wirft er es weg und läßt die Maschine neu würfeln. Die generelle Farblichkeit also ist seine ureigene Entscheidung. Sie betrifft die Qualität der Repräsentamina der Zeichen ganz so, wie bisher die Linienstärken es taten. Die Berührungen, Nachbarschaften, Wiederholungen, Verwandtschaften, Schockierungen der Farbflächen im Konzert aber sind Ergebnis des algorithmischen Ablaufs. Sie sind so, wie sie auf Grund des Algorithmus sein müssen. Der Künstler ermöglicht sie durch die Definition des Algorithmus. Er entfernt sich damit von seinem Werk, dessen Anmutung ihn oft genug selbst erschrecken lässt. Algorithmik enthält Momente der Grausamkeit.
Sein Werk existiert doppeltg: als einzelnes, wahrnehmbares material-stoffliches Realisat und als Instanz einer algorithmisch (d.h. berechenbar) definierten Klasse. Diese Klasse ist das unmittelbare Werk des Künslers. Sie begegnet uns, den Betrachtern, nur mittelbar in ihren einzelnen Realisaten. Diese sind umgekehrt für den Künstler nur mittelbar durch die Funktion des Computers unter Regie des Algorithmus zugänglich.

Verdoppelung
Algorithmische Kunst verschränkt so über die Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem die Betrachter-Wahrnehmung und die Künstler-Herstellung, Ankunft und Herkunft. In der digitalen Welt existieren die Dinge stets doppelt: unseren Sinnen zugänglich an der Peripherie und dem Prozessor zugänglich im Speicher. Das digitale Prinzip lässt sich mit dieser Figur der Verdoppelung treffend beschreiben. Manfred Mohr ist einer von jenen, die das erahnt und in langjähriger systematischer Arbeit erfahren haben.
In seinen neuen, den farbigen Bildern stösst er uns gnadenlos darauf. Der Algorithmus geht mit den Formen und Farben so um, wie er muss und wie es ihm, der alles nur als Code und Zahl kennt, nicht anders möglich ist. Wir erleben Formen und Farben so, wie wir es können und wollen, eingepfercht in unsere Gewohnheiten, Vorlieben, Vorurteile, Geschmacklosigkeiten, Moden, Stimmungen, Situationen und Kontexte. Der Künstler schafft Anlässe und Ermöglichungen. Wir leisten den Rest und staunen oder erschrecken. Die Offenheit und Unendlichkeit des geistigen Raumes, die Abgeschlossenheit und Begrenztheit des körperlichen Raumes. Gefahr und Geborgenheit. Manfred Mohr: Algorithmiker.
Was logisch zwingend — sagen wir algorithmisch bestimmt — ist, kann im Geschmacksurteil von Betrachtern unschön wirken. So erscheint dann die Verdoppelung. Wovon hier erzählt wird, was der Algorithmus beinhaltet und was das Bild ausschnittweise zeigt, darin ist die Ästhetik zu suchen. Der Sinn liegt im Gespür für den inneren Zusammenhang der farblichen Flächen in ihrem sechsdimensionalen Kontext. Ihm liegt eine berechenbare Struktur zu Grunde, die im Bild gestört und verfremdet erscheint. Eine grandiose Konfrontation mit den Grenzen unserer Wahnehmung und der Unbegrenztheit, so scheint es, unseres Denkens.

Dritte Kultur
Ein letztes sei angefügt. C.P. Snows Slogan von den zwei Kulturen ist wieder aufgegriffen worden und spielt im aktuellen kulturpolitischen Diskurs eine gewisse Rolle.(2) Im Jahr 1959 hatte Snow in einem Vortrag auf eine Kluft des Unverständnisses zwischen literarischer und szientifischer Intelligenz hingewiesen, zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Die westlichen Kulturen seien in Wahrheit in zwei aufgespalten, die sich nichts zu sagen hätten und die die Welt — als Natur und Gesellschaft — völlig verschieden interpretierten.
Snow löste eine heftige Debatte aus, die unentschieden blieb. Er äusserte sich 1963 selbst dazu und sprach von der Hoffnung, dass eine dritte Kultur aufkommen möge, die die besten Seiten der hermeneutisch-kritischen und der konstruktiv-formalen Intelligenz vereine. Sein Anliegen war ein Ausgleich zwischen den reichen und armen Ländern.
Die digitale Welt, die Informatisierung, die Maschinisierung von Kopfarbeit tauchten damals allmählich auf. Sie lassen Snows These in einem anderen Licht erscheinen, einem weniger politischen. Heute sind sie manifest und spätestens mit dem World Wide Webg und dem allgegenwärtigen Berechnen ist die digitale Technik alltägliche kulturelle Tatsache geworden. Vieles spricht dafür, dass das Geschehen um den algorithmischen Zugang zur Welt, die Verdoppelung, die in der Semiotisierung liegt und von der die Rede war, eine neue Art von intelligentem Verhalten erfordert.
Gefordert wird eine Intelligenz, die sich in beiden Kulturen Snows zu Hause fühlt, die sich hermeneutisch und konstruierend äussern kann. Eine algorithmisch-semiotische Intelligenz! Eine Intelligenz jenseits der Dingwelt, die sich in der Flüchtigkeit von Zeichenprozessen zu Hause fühlt, ohne der Beliebigkeit des Essays zu verfallen, die also Werke schafft, die Anlass geben: Werke als algorithmische Klassen. Herkünfte für Ankünfte. Eine Intelligenz, wie sie sich nach dem Sturm abendländischen Denkens und Handelns nach Westen und nach dessen Bruch an der Mauer des Pazifik (Lyotard) in der semiotischen Reflexion der Postmoderne zeigt.
Algorithmische Künstler wie Manfred Mohr zählen gewiss zu ihren Pionieren.
Es ist abschliessend anzumerken, dass unser Künstler die Stichworte für dieses Essay geliefert hat. Dafür bedanke ich mich leise. Ein Text aus New Yorker Tagen im Sommer 2001.

(1) So bei Abbot, Rucker, Banchoff.
(2) C.P. Snow: The two cultures and the scientific revolution. 1959.
- John Brockman (ed.): The third culture. New York 1995



Copyright by Prof. Dr. Frieder Nake, aus Ausstellungs Katalog 'Manfred Mohr - space.color', Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt 2001