Es ist Manfred Mohr gelungen, den Würfel, ein Urmodell konstruktiven Denkens und Gestaltens, in den Mittelpunkt einer vitalen Philosophie zu stellen, deren Ausdehnungen jedoch nur das Hilfsmittel Computer ermöglichte. Damit aber ist ein bekannter Gegenstand angesprochen, die Arbeit des Künstlers kann konzentriert beobachtet werden. Es handelt sich "nur" noch darum, der künstlerischen Frage des "wie" nachzugehen, wobei der Künstler selbst immer wieder mit klaren Darstellungen für transparente Verhältnisse sorgt. Mohr hat in verschiedenen Werkphasen den Würfel einmal zweigeteilt, indem er ihn durch seinen Mittelpunkt mit einem horizontalen Schnitt in unterschiedliche Hälften teilte, und einmal hat er ihn mit einem horizontalen und einem vertikalen Schnitt durch den Mittelpunkt in vier Teile geteilt. Mit diesen Arbeiten am Würfel seit 1973 ist der Konstruktiven Kunst eine früher ungeahnte, neue und grossartige Entwicklung zugewachsen. Manfred Mohr hat sein Vorgehen wie folgt beschrieben: "Der visuelle Ausgangspunkt besteht darin, durch bewusstes Stören, oder Zerbrechen der Symmetrie im Würfel, unstabile Zeichen herzustellen. Dazu entwickelte ich Methoden, um entweder Kanten vom Würfel zu entfernen, oder den Würfel mit einem quadratischen Fenster, das bei einer Frontalansicht entsteht, zu beschneiden, oder den Würfel entlang den Cartesianischen Achsen zu durchschneiden. Im letzten Fall können dann die einzelnen Teile des Würfels unabhängig voneinander verdreht werden." Er erweiterte die Methoden so, dass neue Algorithmen enstanden, die er mit biologischem bzw. mit organischem Wachstum vergleicht.
Was den Beobachter als Ergebnisse eines solchen Vorgehens erwartet, sind lineare Zeichenkonstellationen zweier Strukturen, zweidimensionale Projektionen der mehrdimensionalen Würfelmanipulationen. Die Struktur aus den dünnen Linien beschreibt dabei in Gestalt eines Polygons die Würfelkanten und die horizontalen und vertikalen Schnittlinien, die Struktur der halbfetten Linien sind die Innen-Linien der verdrehten Würfelteile. Durch die Erweiterung der Methoden und die Entstehung neuer Algorithmen entstehen Superstrukturen. Schön sind jedoch vor allem die einfachen horizontalen Teilungen mit einer Verdrehung der beiden Hälften. Indem Mohr auch das quadratische Fenster des traditionellen Bildauschnittes über die linearen Strukturen legt, werden die halbfetten Innen-Linien zu separaten Zeichen, die teils ohne den polygonalen Umriss, teils aber auch mit diesem ihre semantische Funktion erfüllen. Es entstehen dabei Umklappeffekte der Wahrnehmung, ähnlich wie sie Josef Albers mit seinen "Konstellationen" formuliert hatte. Die Kubisten der ersten Stunde würden staunen über die Möglichkeiten des neuen Mediums. Mohrs Operationsmodelle, aufgebaut mit den einzelnen Zeichen als Repertoire, erlaubten ihm Variationen ins Kombinatorische, Statistische oder das Symbol-Logische. Typisch bleibt für das ganz Werk der Akt der Wahl des ästhetischen Prozesses. Darin ist auch Manfred Mohr ein Anhänger und Fortentwickler der Lehre von Max Bense.
Mit einem weiteren Statement öffnet der Künstler den Zugang zu einer tieferen Motivation seines Arbeitens mit dem Computer, wie es eine kunstphilosophische These nicht besser zum wahren Stand der Dinge der Heutzeit sagen könnte: "Das ästhetische Ergebnis unterscheidet sich letztlich nicht unbedingt von einer Handzeichnung, was mich jedoch im Umgang mit der Maschine fasziniert, ist die Tatsache einer physischen und intellektuellen Ausdehnung meiner selbst". Dies macht auch verständlich, dass einer der ganz fachkundigen Autoren um Manfred Mohr - Manfred Schmalriede - einmal auf den Dialog zwischen Künstler und Computer hinweisen konnte, "wobei letzterer in einer Art Schnellverfahren - von Mohr als high-speed-visual-thinking apostrophiert - die Veränderungen des Programms sofort in veränderten Konfigurationen visualisiert. Dieser Dialog ist mit dem "bildnerischen Denken" Paul Klees vergleichbar." Manfred Mohr hat sich bei seinem Suchen mit Dimensionen befasst - und sie ergaben sich in generativen Prozessen -, die der Wahrnehmung und der Intuition nicht zugänglich sind, und doch sind sie abbildbar. Auch der Erstbeobachter von Mohrs Arbeiten wird im Sichtbaren der Malerei ein unfassbares Ganzes, ein unsichtbares Universelles ahnend erfahren. Obgleich das Gehirn ein zu hoher Komplexität entwickelter Teil der Welt ist, hat es seine eigene Komplexität erst noch auszuloten. Solche Überlegungen, zu denen die Werke von Manfred Mohr der gegebene Anlass sind, bewegen sich am Rand eines sich abzeichnenden Kulturwandels und sie mögen auf den ersten Blick dem Bereich des Ästhetischen der Konstruktivität nicht mehr angehören. Doch schon 1958 hat Max Bense postuliert: "Je tiefer man in die mikroästhetische Natur eines Kunstwerks eindringt, desto weniger lässt sich der physikalische vom ästhetischen Prozess trennen: das konventionell so bezeichnete Kunstwerk verschwimmt und es treten disperse und konjugierte Zustände auf, deren ästhetische Idendifikation nicht in jedem Fall authentisch sein kann."
Doch noch arbeitet Manfred Mohr auch mit wahrnehmbaren Spannungsbeziehungen, Bestätigungen dafür, dass seine Kunst, wie er sie sieht, keine kalte Mathematik, sondern eine vitale Philosophie darstellt. Ein gutes Beispiel ist eine seiner letzten Serien, die 15-teilige Serie "Kontrapunkt", aufbauend auf dem "6-D Hyperwürfel". Mit ihren Diagonalstrukturen stösst sie an die Bildgrenzen, bezieht diese mit ein, schafft Spannung zwischen Zeichen und Format. Ebenso verändern neueste Arbeiten, Zeichnungen und Acrylbilder, aufgrund ihrer internen Logik ihr Format, das heisst Format und Umriss bilden ihre Aufbaulogik ab. So ist jede Begegnung mit Manfred Mohrs Werk letzlich wie bei jeder Kunst eine Begegnung mit Spannung zwischen innen und aussen, doch liegt in der Wahl des Mediums und dem Können, mit ihm den Dialog zu führen, das historische Moment.