I
Die präzis, rational und logisch konstruierten Arbeiten von Manfred
Mohr wurzeln im Informel - jener Malerei, die den Gestus, die
Handschrift, und damit die Individualität des Künstlers und der
Kunst betont. Sie wurzeln zudem im Jazz und in der Informatik,
nicht aber, wie man vermuten könnte, in der konstruktiv-konkreten
oder systematischen Kunst.
Mohrs frühes Vorbild als Maler war K.R.H. Sonderborg, einer der Hauptvertreter des europäischen Informel. In schwarzer Tusche, einer rasch trocknenden Flüssigkeit, die gemeinhin für Skizzen zur flüchtigen Fixierung von Entwürfen und Einfällen verwendet wird, thematisiert Sonderborg seit 1953 in seinen Bildern den sich augenblicklich vollziehenden Malakt, deren Entstehungsmoment seit 1960 im Bildtitel hervorgehoben wird. Sonderborgs Bildwelt ist nicht Zeichen einer ausserbildlichen Wirklichkeit, vielmehr fallen hier Zeichen und Bezeichnetes zusammen. Dementsprechend formuliert der Künstler, der übrigens wie Mohr Jazz-Musiker ist, seinen Ausdruckswillen: "Es liegt mir daran, dass sichtbar ist: Die Schönheit und Rhythmik unserer technischen Umwelt und der Schlag des menschlichen Herzens."1 Sonderborg integriert somit die Technik in seine ästhetische Welt und überträgt deren zentrales Kriterium Schönheit auf technische Produkte. Allerdings bleibt ungeklärt, ob Schönheit für ihn eine substantielle oder eher strukturelle, eine gegenständliche oder eher funktionelle Bedeutung hat.
Von seinem um eine Generation älteren Malerkollegen übernimmt Mohr 1962 die unbunte Farbskala, Schwarz und Weiss, die er manchmal mit Grau erweitert. Diese Ökonomie der Ausdrucksmittel hält er besonders geeignet für seine "künstliche Kunst"2 : "Die ausschliessliche Verwendung von Schwarz und Weiss als bildnerisches Gestaltungsmittel erlaubt mir, ein rigoroses System von Binär-Entscheidungen zu beschreiben."3 Diese Reduktion erweist sich als "absolute Kommunikationsbasis" in seinem Dialog mit Computer und Plotter. Beide, Rechenmaschine wie auch mechanisches Zeichengerät, setzt Mohr seit 1969 als Hilfsmittel zur Realisation seiner künstlerischen Vorstellungen ein. Vorausgegangen war ein intensives Studium von Max Benses Schriften zur Ästhetik, wodurch die Semiotik zum zentralen Thema seines Denkens wurde und sich ihm ein neues künstlerisches Ziel eröffnete: "Eine rationale Herstellung von Kunst!"4 , eine rationale Erzeugung von Zeichen. Hierin sah Mohr die Möglichkeit, sowohl seine Intentionen präziser als in einer von subjektiven Empfindungen gesteuerten Malerei vermitteln zu können, als auch den ästhetischen Prozess dem Horizont der technischen Zivilisation zu integrieren: "Die technische und soziale Entwicklung verlangt von uns mehr und mehr ein logisches und abstraktes Denken. Es ist daher durchaus verständlich, dass auch im Bereich der Ästhetik nach logischen Zusammenhängen und Gesetzmässigkeiten geforscht wird."5 Ausgehend von spontaner Aussage, von informellen Bildern, konstruiert Mohr Aussagen, indem er in analytischen Verfahren aus seinen Werken die ästhetische Information separiert. Dokumentiert ist die sukzessive Systematisierung des Bildaufbaus in Bildern und Serien der sechziger Jahre wie z.B. Frühe Arbeiten (1965-66), Subjektive Geometrie (1966-1969) und Frühe algorithmische Arbeiten (1969-1972). Sie zeigen zunehmend eine Bevorzugung geometrischer und damit konstruierbarer Formen gegenüber irrationalen Elementen. Bereits in dieser Übergangsphase werden seine Werke zusätzlich von Texten begleitet. Sie erläutern u.a. die Herstellungsprozeduren der Computergrafiken, so dass ihre Konstruktion für jeden nachvollziehbar wird. Bewusst hebt Mohr das artistisch-t echnologische gegenüber dem metaphysisch-spekulativen Moment der Bildschöpfung hervor, schliesslich liegt ihm daran, die "mystischen Barrieren, hinter denen sich ein Künstler verbergen kann"6 , abzubauen. Hierbei hilft ihm der Computer, der die Umsetzung des schöpferischen Akts in einen logischen Prozess fordert. Dies führt einerseits zu einer Theoretisierung und Intellektualisierung der ästhetischen Produktion und andererseits zum Übergang von einer schöpferisch-emotionalen zu einer emotionslosen und logischen Bildkonzeption und -realisation. Mohr geht es bei seiner Kunst daher nicht primär darum, dass das Mitwirken der Maschine wahrnehmbar bleibt, da sie nur als Instrument fungiert. Vielmehr soll erkannt werden, dass seine Computergrafiken Gegenstand einer semiotischen, einer syntaktischen, und damit einer wissenschaftlichen Ästhetik sind, deren zentraler Begriff eben nicht die nur durch subjektive Interpretation empfindbare Schönheit ist, sondern nach Bense ein ästhetischer Zustand, der objektiv feststellbar und beschreibbar ist7 . Im Unterschied zu Sonderborg will Mohr mit seinen Arbeiten einen Erkenntnisprozess beim Betrachter auslösen: "Wesentlicher erscheint mir, dass er (sc. der Betrachter) eine ungewöhnliche ästhetische Form akzeptiert, dass ihn eine neue Einsicht erfüllt, die nicht mehr auf der Unterscheidung zwischen 'Schönheit' und 'Hässlichkeit' einzelner Formen beruht, sondern auf der Struktur, der Konstruktion dieser Formen und auf ihren statistischen Beziehungen zueinander. Nur das Ganze zählt."8 Mohrs Werke sind daher als Stimulans des Verstandes und weniger als Stimulans der Empfindung konzipiert.
II
Voraussetzung der "künstlichen Kunst" ist das Erfinden von
Algorithmen9 , von Regeln
im Sinne von Spielregeln, zur Erzeugung von Zeichen. Dies ist vor
allem ein rationeller Ansatz zur Bildkonzeption, da der Algorithmus
für jedes Problem einer Klasse von Problemen eine Lösung liefert.
Die Idee des Algorithmus überträgt Mohr auf seine Kunst durch die
fast ausschliessliche Erstellung von Bildserien. Seit 1969, also mit
der Einführung des Computers und Plotters, betitelt er seine Bilder
und Grafiken Generative Arbeiten, da die Zeichen durch die
rationale Struktur der Programmierung und durch generative Prozesse
entstanden sind. Sie gehören einer generativen Ästhetik an. Unter
generativer Ästhetik versteht Bense: "...die Zusammenfassung aller
Operationen, Regeln und Theoreme..., durch deren Anwendung auf eine
Menge materialer Elemente, die als Zeichen fungieren können, in
diesen ästhetische Zustände (Verteilungen bzw. Gestaltungen) bewusst
und methodisch erzeugbar sind."10 Die generierten Zeichen nennt Mohr
êtres graphiques, und als solche sind sie nicht der Welt des
Scheins oder gar der Idealität zuzuordnen: Sie besitzen als
Resultat einer Berechnung ein objektives, eigenständiges und
feststellbares Sein. Ihr "logischer Inhalt" ist ihre
Entstehungsgeschichte. In den Generativen Arbeiten fungieren
die Zeichen vor allem als Träger ästhetischer Information. Dabei
ist ihre Herkunft zwar grundlegend, aber nicht unbedingt wichtig:
"Das Zeichen muss sich vom logischen Inhalt visuell loslösen können,
um sich als abstrakte Form darzustellen. Es sollte mindestens aber
ein Gleichgewicht aus logischem Inhalt (Herkunft) und ästhetischer
Information (Ziel) erreicht werden."11 Die Herstellung des von Mohr geforderten
dynamischen Zustandes gelingt experimentell: "Es scheint mir
wichtig an dieser Stelle zu betonen, dass nicht jeder zufällige
Prozess zufriedenstellende Resultate ergibt. Durch
richtungsweisende Entscheidungen müssen Denkprozesse sichtbar
werden, die gewisse Verfahren verändern oder vielleicht sogar
verwerfen, um pseudo-aesthetische Information zu
verhindern."12 Die êtres
graphiques gehen aus einem Prozess hervor, der in seiner
Struktur mit dem Spiel vergleichbar ist. Ebenso wie im Spiel sind
Anfang und theoretische Zielvorstellung bekannt und der Verlauf
durch Regeln festgelegt. Die Besonderheit besteht jedoch darin, dass
das Geflecht aus Regeln nicht vollständig determiniert ist: Die
Generierung von Zeichen weist in ihrem Verlauf Verzweigungen auf,
an denen freie Entscheidungen bzw. Zufallsentscheidungen zu treffen
sind. Diese Zufallsentscheidungen halten den Rechenprozess aufrecht,
wobei Zufall, dem Arpschen Zu-fallen oder der Intuition verwandt,
von Mohr positiv verstanden wird: Er ist die "Peitsche", die das
Programm vorwärts treibt. Insbesondere aber garantiert er nach
Bense auch die Singularität des maschinell erzeugten ästhetischen
Objekts.13 Die schwach
determinierte Zeichenherstellung unterscheidet sich daher von der
stark determinierten Produktion technischer Gebilde. Ausserdem ist
das technische Produkt antizipierbar, während das ästhetische
Objekt sich der Antizipation entzieht.
Auch wenn die mit Antizipation und Vorhersehbarkeit verknüpfte Präzision, ein ? Gestaltungsmittel unserer technischen Zivilisation, der Vorhersehbarkeit der ästhetischen Produktion widerspricht, macht Mohr sie zur Konstante in seinen Generativen Arbeiten und nutzt sie, um Erkenntnisse über den kreativen Prozess zu gewinnen: "Der Beitrag des Computers ist also völlig klar: Er zwingt den Künstler zu absoluter Präzision, und er macht die Genauigkeit zu einem künstlerischen Gestaltungsmittel. Präzision bedeutet für den Künstler die Verpflichtung, über die spontane Intuition hinaus weiterzugehen, die Verpflichtung sich auszudrücken, eine originäre Idee in ein Programm umzusetzen, das alle Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung enthält. Der Lohn der Präzision ist die Gewissheit, dass alles realisierbar ist, was der Künstler definieren kann und will."14 Präzision bezieht Mohr allerdings nur auf das mathematisch Beschreibbare bzw. darauf, was das zwischen "Schöpfer und Werk geschaltete Vermittlungsschema"15 transponieren kann. In jedem Fall ist das durch Computer erstellte künstliche Kunstwerk ein vom traditionellen Bild abstrahiertes. Indessen kann bei beiden die ästhetische Information nicht vorhergesehen werden. Nach Bense ist die Kunst, die nur in der Realisation existiert, in Bezug auf die Realisationsmittel statistisch beschreibbar. Wie jedes Zeichen ist auch das Kunstwerk nur relativ zu seinem Mittelrepertoire analysierbar.
III
Mohr führt 1973 FÜr die zeichenerzeugenden generativen Prozesse den
Würfel als eine Art "Basisstruktur" in seine Arbeiten ein. In der
Serie Cubic Limit (1973-1977) wird das stereometrische
Gebilde als festgefügte Struktur, als System aus Linienrelationen,
zur Zeichenherstellung verwendet, wobei die einzelnen Elemente des
Würfels, wie z.B. seine Kanten, das Repertoire bilden. Der
Zeichenvorrat besteht aus den Elementen eines
parallelperspektivisch projizierten Würfels. Durch diese vom
Standort des Betrachters unabhängige Projektion ist die
Zeichenmenge als Mittelrepertoire bestimmt, dem das Zeichen als ein
Mittel bzw. als ein Träger ästhetischer Information angehört. Die
Wahl des Würfels als Grundkörper für seine Bildwelt ist Ausdruck
einer Weltsicht des Künstlers. Im Unterschied zur Kugel, die als
Symbol des Vollkommenen, der Ordnung und des Universums
traditionell den Himmel repräsentiert, ist der kantige Würfel
Symbol des Soliden, Festen, des Unveränderlichen und repräsentiert
unter den fünf platonischen Körpern die Erde. Im sphärischen
Weltbild der Antike wurde nach den Gesetzmässigkeiten hinter den
Erscheinungen gesucht, um schliesslich jenes lückenlose Geflecht von
Gesetzen und Algorithmen aufzustellen, das den einzigartigen Kosmos
definieren soll. Die Vertreter des kubischen Weltbildes hingegen
kennen die störenden Kanten, die den Lauf des Würfels bremsen. Sie
wissen ob des Unvorhersehbaren, des Zufalls, der sich hinter der
Ordnung verbirgt. Die Gegensätze Ordnung und Unordung bzw. Zufall
treffen jedoch in der dynamischen Bewegung des Würfels ein
Arrangement, in dem die Unordnung Baustein einer sensiblen Ordnung
ist. Doch dieses wahrzunehmen, bedarf es der Aufhebung der
Symmetrie des Würfels. Mit der Zerstörung der Symmetrie durch
Anbringen der Würfelaugen wandelt sich das Gebilde in ein
Spielzeug, das fähig ist, den Menschen der Alltagswelt zu
entreissen. Im Spiel wie auch in den Arbeiten Mohrs fungiert der
Würfel als ein Mittel. Die Verbindung zwischen Spiel und Kunst
leistet die Einbildungskraft, nach Kant das "Vermögen der
Darstellung ästhetischer Ideen". Dietrich Mathy stellt heraus: "Es
scheint, als hätten die Romantiker den Begriff der Einbildungskraft
auf Grund seiner Affinität zur Sphäre des Spiels - ausgezeichnet
durch den Schein einer wesentlich der Willkür verhafteten Schönheit
qua Zweckmässigkeit ohne Zweck und ineins damit einer wesentlich
anarchischer Spontaneität verhafteten Freiheit qua Gesetzmässigkeit
ohne Gesetz - einerseits, und seiner die Grenzen der Erfahrung
ästhetisch transzendierenden Funktion wegen - die dem Wirklichen
das Mögliche vorhält - andererseits, mit der Vorstellung des
Chaotischen in Verbindung gebracht."16
Mohrs Entscheidung, ein geometrisches Gebilde als "Urstruktur" seinen Generativen Arbeiten zugrunde zulegen, kann mit Benses Aesthetica begründet werden: "Der Zusammenhang von Kunst und Mathematik ist altbekannt; dass die formalen Interessen der Kunst mathematisch, arithmetisch oder geometrisch beschreibbar sind, ist nicht nur erst seit der Renaissance Bestandteil der Ästhetik... Vom Standpunkt der statistischen und informationellen Ästhetik ist dazu folgendes zu sagen: jede extensionale Realität, die ästhetische wie physikalische, ist mathematisch beschreibbar; ihre arithmetischen oder geometrischen (statistischen und topologischen) Strukturen gehören zum Wesen ihres manipulierbaren und determinierbaren Aufbaus aus materialen Elementen. Der Vorzug des mathematischen Trägers als einer besonderen Klasse des semantischen Trägers ästhetischer Botschaften (künstlerische Gestaltungen) beruht im wesentlichen auf zwei Eigenschaften: Erstens auf den zugleich hohen und subtilen Redundanzmerkmalen, die durch den mathematischen Träger der künstlerischen Realität gegeben werden und wodurch diese zugleich determinierbare Präzision, aber auch nichtdeterminierbare Fragilität gewinnt... Der grundsätzliche (seinsthematische, ontologische) Unterschied zwischen mathematischem und ästhetischem Sein, dass jenes auf maximalen Redundanzen und Idealität, dieses aber auf maximalen Innovationen und Realität beruht, bleibt also gerade in der Ausnutzung mathematischer Träger ästhetischer Botschaften spannungsvoll und ästhetisch überraschend erhalten."17
IV
Anknüpfend an den Bildbegriff wie auch an die Begriffe Nachahmung
und Abstraktion untersucht Mohr in der Serie Cubic Limit die
Ikonizität18 bzw. die
Nichtikonizität eines Zeichens durch systematische Demontage der
zwölf Würfelkanten oder in umgekehrter Leserichtung durch die
Komposition eines Würfels. Die Elimination der Kanten bewirkt einen
Informationsverlust hinsichtlich des Grundkörpers, jedoch einen
Informationsgewinn hinsichtlich des ästhetischen Zeichenprozesses,
insofern die durch Destruktion herbeigeführte Störung der
Basisstruktur vom Auge bzw. von der Erinnerung bis zu einem
gewissen Grad aufgehoben wird. Der Ikonizitätsgrad eines Zeichens
hängt also nicht nur von der seins-verändernden bzw.
seins-modifizierenden Operation der Demontage ab, sondern auch vom
Betrachter. Die Ikonizität eines Zeichens lässt sich daher nicht
eindeutig bestimmen.
Der ästhetische Zeichenprozess wird von Zeichen erzeugenden
Funktoren (z.B. Demontage, Erinnerung) beherrscht. Ästhetisch
interessant sind insbesondere Fragmente, abgerissene Strukturen,
Unterbrechungen oder Weglassungen, da von ihnen eine visuelle
Instabilität ausgeht. Dies lässt erkennen, dass der syntaktische
Aufbau eines Kunstwerks "Grundlage eines visuellen und
intellektuellen Verständnisses ästhetischer Zusammenhänge" sein
kann. Die Serie "Cubic Limit" führt zur Zeichengenerierung
verschiedene Operationsmodelle, eine generative Grammatik, ein:
Rotation, Kombination, Statistik, logische Symbolik,
Addition/Subtraktion, Restriktion und Extension. Durch die
systematische Anwendung dieser Operationen auf die Würfelelemente
der jeweiligen Repertoires entsteht eine beeindruckende Vielzahl
neuer ästhetischer Zeichen. Diese Vielfalt resultiert jedoch nicht
nur aus einer unterschiedlichen Verknüpfung eines immer
gleichbleibenden Zeichenvorrats, vielmehr ändert Mohr auch das
Mittelrepertoire. In Cubic Limit II wird die Symmetrie des
Würfels zerstört. Symmetrie, im allgemeinen mit Schönheit und
Ordnung assoziiert, ist für Mohr ein Synonym für Unbeweglichkeit
und Stabilität oder auch Tod19 und damit auch für evolutionären
Stillstand. Dies entspricht der Theorie vom Urknall, nach der der
Zusammenbruch eines symmetrischen Zustands Voraussetzung für die
Entstehung der Welt war. Für Mohr entsteht durch das Stören bzw.
Auflösen der Symmetrie "ein Generator neuer Aufbau- und
Spannungsverhältnisse"20 .
Die hiermit einhergehende Destruktion führt jedoch nicht, wie aus
dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik spekulativ abgeleitet
wurde, zu einem Zerfall der 'Welt'. Die Computergrafiken zeigen,
dass bei der methodischen Dekomposition bzw. Demontage endlich viele
alternative 'Welten' selektiert werden können. Diese Welten,
Zeichenwelten, sind vom Zufall durchsetzt und können aufgrund ihrer
instabilen und unwahrscheinlichen Ordnung Erkenntnisprozesse
auslösen.
Durch das Zerbrechen der Symmetrie wird der
syntaktische Zeichencharakter des Gestaltungs- und
Kompositionsmittels Symmetrie erkennbar. Das Aufheben dieser
Ordnungsstruktur im Bild P-196-EE aus der Serie Cubic
Limit lässt Raum für alternative Interpretationen hinsichtlich
der Beziehung zwischen Quadratfenster und Kippfigur. Keine der
alternativen Interpretationen vereindeutigt indessen das
Verhältnis, was beim Betrachter die Suche nach einer höheren
Ordnung, einer Symmetrie, 'erzwingt'. Der sich hier vollziehende
Erkenntnisprozess beleuchtet den Weg von der Alternative zur
Symmetrie, wobei die mit der Alternative verbundene Freiheit von
der an Ordnung, d.h. an Regeln gebundenen Symmetrie eingeholt wird.
Dieser Vorgang reflektiert den ästhetischen Produktionsprozess
innerhalb der Generativen Arbeiten Mohrs. Er beginnt,
umgekehrt, mit dem Erstellen von parametrischen Regeln und erst im
Prozessverlauf sind variable Entscheidungen zu treffen. Dieses
übernimmt der Zufall, womit ein emotions- bzw. wertfreies Auswählen
garantiert wird. Es fallen folgende Entscheidungen:
"Ja-/Nein-Entscheidungen, Auswählen aus mehreren möglichen
Elementen, Aufteilen von Elementen nach statistischen
Gesichtspunkten."21
In den Arbeiten Mohrs bestimmt der Akt der Wahl den ästhetischen
Prozess. Hierzu sagt Bense: "Tatsächlich sind solche ästhetischen
Systeme genau wie die Information Ausdruck einer Verteilungs- und
Auswahlfunktion, und beide, also die relative Häufigkeit eines
Zeichens wie auch die relative Freiheit, die man besitzt, es unter
anderen verfügbaren Möglichkeiten auszuwählen, sind zu Beginn des
ästhetischen Prozesses im Verhältnis zur Häufigkeit und
Auswahlmöglichkeit anderer Zeichen (unter den überhaupt
vorgegebenen) im allgemeinen keineswegs statistisch bevorzugt. Im
grossen und ganzen sind die Wahrscheinlichkeiten, ausgewählt zu
werden und zu erscheinen, für alle Zeichen der verfügbaren Menge
zunächst einmal gleich."22
Der2 ästhetische Zeichenprozess gehört zu "jener Klasse von
Prozessen, die mit gleichen Wahrscheinlichkeiten, also rein
stochastisch, beginnen, in deren Verlauf jedoch die
Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Zeichen ausgewählt werden
können und auftreten, immer grösser wird, indessen die
Wahrscheinlichkeit für gewisse andere... sich immer stärker
verringert und schliesslich verschwindet"23 . Die ästhetische Information als
Funktion der Selektion vergrössert sich mit der Freiheit der Wahl,
mit Warren Weaver, "die Unsicherheit, dass die wirklich ausgewählte
Nachricht auch eine bestimmte" ist, ist unbestimmt. Eine sukzessive
Vergrösserung der ästhetischen Information in Abhängigkeit von einem
erweiterten Zeichenrepertoire ist insbesondere in Mohrs Serien seit
1978 festzustellen. Unvorhersehbarkeit und Unwahrscheinlichkeit
sind in seinen Bildern mit der Fragilität der Formen in Verbindung
zubringen.
In den Wandobjekten der darauffolgenden Serie Divisibility (1980-1986) weitet sich der Zerlegungsprozess auf den Bildträger aus, wobei auch die Technologie des Herstellens des Kunstobjekts in den Zeichenprozess einbezogen wird. Der ästhetische Zeichenprozess wird in diesem Zusammenhang als ein gegenstandserzeugender Prozess begriffen. Erzeugung und Wachstum thematisiert Mohr in dieser Bildfolge. Die Basisstruktur, der Würfel, ist im isolierten Einzelbild nicht mehr zu identifizieren. Nach Mohr hat sich das Zeichen von "seinem logischen Inhalt visuell loslösen können, um sich als abstrakte Form darstellen zu können". Dargestellt ist ein durch Informationsübertragung sich fortpflanzendes, abstraktes Zeichen, das sequentiell und ohne Richtungsbeschränkung wächst und sich ausdehnt. Die Loslösung der Form von ihrer Entstehungsgeschichte wird dahingehend deutbar, dass der ästhetische Prozess nicht nur ein Prozess der Schöpfung, sondern auch der Übertragung, der Kommunikation, ist: Die ästhetische Information wird durch die Vierteilung eines Würfels erzeugt. Da sich nicht jedes der vier Würfel-Segmente als ein neues Zeichen in einem neuen Darstellungsfeld reproduziert, ist die Kommunikation im Verhältnis zur ästhetischen Information selektiv. Diese neuen Zeichen pflanzen sich wiederum selektiv in jeweils neuen Darstellungsfeldern fort: in Darstellungen, in Darstellungen von Darstellungen etc. und dort als Zeichen vom Zeichen, als Zeichen vom Zeichen vom Zeichen etc. In diesen Arbeiten erscheinen Konturen "als System sich ausweitender (sich ausdehnender) möglicher Konturen und dieses Konturensystem, das den Gegenstand in der 'Verworrenheit des Objekts' zeigt, wie Whitehead formuliert, stellt gar kein System der Begrenzung, sondern ein System der Ausdehnung dar, das nicht Form, sondern Funktion vermittelt, das einen Gegenstand nicht im Sinne des isolierbaren Objekts, sondern im Sinne seiner zusammenhängenden 'Congredienz', d.h. Ereignistotalität liefert"24 .
Nahezu gleichzeitig mit Divisibility
beginnt die Arbeit an der Serie Dimensions (1978-1989). Ging
es in Divisibility um Wachstum bzw. Vermehrung von Zeichen,
so thematisiert Mohr die Vergrösserung des Zeichenvorrats in
Dimensions . Auch hier ist die Basisstruktur, der Würfel,
nicht mehr auszumachen. Der 3-dimensionale Kubus in Cubic
Limit wird zum 4-dimensionalen, 32 Kanten zählenden
Hyperwürfel, mittels dessen Mohr dem Betrachter neue Einblicke in
den ästhetischen Prozess gibt. Der ausserhalb der visuellen Erfahrung
liegende Körper setzt sich in der Ebene aus acht Würfeln zusammen,
wobei jede Kante eines Würfels gleichzeitig zu drei verschiedenen,
aber anliegenden Würfeln gehört. Mit dieser festgefügten Struktur
generiert Mohr Zeichen, die ihre Komplexität in verschiedenen
Dimensionen entfalten. Sie lassen dem Interpreten einen weiten
Spielraum für Imagination und Assoziationen, der in der visuellen
Ambiguität der Zeichen angelegt ist. Polyvalenz und Mehrdeutigkeit
werden als artistisches Moment in Mohrs Metasprache methodisch
konstruiert. Sie resultieren u.a. aus der Projektion des
4-dimensionalen Körpers sowie aus der systematischen Demontage des
geometrischen Gebildes. Durch die Elimination von Linienelementen
wird die Einheit bzw. Ganzheit des Körpers aufgehoben, und es tritt
Ambiguität auf, die im offenen Konnex der aneinander verbundenen
Zeichen beruht.
Die Arbeit P-224, bestehend aus vier Teilen, lässt den
Zusammenhang erkennen: Die vier "spitzen" Bilder berühren sich
nicht nur von aussen über zwei Ecken, vielmehr ist auch über die
horizontalen Linien ein innerer Zusammenhang sichtbar. Damit ist
jedes Bild nicht mehr nur ein sich selbst "reflektierendes"
Zeichen, sondern Konstituent eines komplexen Zusammenhangs, einer
Ganzheit, einer Konfiguration. Dieser geschlossene Konnex stellt
sich dem Interpreten in einem integrierenden Prozess dar, in dem der
Graph des Hyperwürfels entwickelt wird.
Die Reliefserie Laserglyphs (1991-1992) basiert auf dem 6-dimensionalen Hyperwürfel, einer Struktur mit 32 Diagonalen und 32x720 = 23.040 Diagonal-Wegen. Die immense Vergrösserung des Repertoires macht die Wahl von vier bestimmten Diagonal-Wegen zur Erzeugung eines Laserglyphs unwahrscheinlich. Der Titel dieser Serie verweist auf das Herstellen, auf die materiale Realisation der Reliefkonzeption und lenkt den Blick auf das materiale Gefüge aus Diagonal-Wegen, das als komplexer Zusammenhang von Indizes in Erscheinung tritt. Die Anschaulichkeit der ästhetischen Realität beruht daher auch nicht auf einem abbildenden Ikonismus, sondern auf einer kompositionellen Indexikalität, wodurch der Objektbezug in den Vordergrund gestellt ist. Für den Betrachter der weissen Reliefs existiert der ästhetische Zustand einerseits aus der präsentierten physikalischen Realität des künstlichen Gegenstandes des Kunstwerks und andererseits aus der repräsentierten in reflektierendem Weiss getauchten spirituellen Realität seines original singulären Zustands. Diese Doppelrealität wird in den Laserglyphs auch insofern thematisiert als die physikalische Realität der festen, harten und schweren Stahlreliefs hinter der in entmaterialisierendem Weiss gehüllten Zeichenrealität des Kunstobjekts zurücktritt, in dem die Diagonal-Wege fragil wirken und in ihrem Verlauf schwerelos ihre Bahnen und Richtungen zu ändern scheinen. Hinsichtlich ihres Zeichen internen Interpretantenbezugs repräsentieren die Laserglyphs in ihrer Eigenschaft als künstlerische Objekte durch die Gesamtheit der künstlerisch konstruierten materiellen Substanz den komplexen Zusammenhang ihrer indexikalischen Verknüpfungen. Für den Rezipienten entfaltet sich die ästhetische Realität der von Mohr geschaffenen rahmenlosen Reliefs in einem Gefüge von Diagonal-Wegen, deren Interpretant ein offener Konnex bildet.
Die neueste Serie Kontrapunkt (1993-1994) verweist in ihrem Titel auf den umfassenderen Rahmen, in dem Mohrs Kunst zu sehen ist. Mohr, selbst Jazz-Musiker, stellt stets haraus, dass er wichtige Impulse vom französischen Komponisten Pierre Barbaud erhalten habe. Inwieweit Kompositionselemente der Musik, insbesondere der Improvisation, den Arbeiten integriert sind, könnte Thema einer neuen Untersuchung sein.
Die 15-teilige Serie Kontrapunkt baut wie
die Laserglyphs auf dem 6-dimensionalen Hyperwürfel auf. Die
abstrakten Formen haben sich von ihrem logischen Inhalt gelöst. Es
fällt auf, dass die Formen, bizarre, expressive Bewegungslinien, die
Bildgrenzen berühren, als ob sie einen Hinweis auf die Bildgrenzen
zu geben beabsichtigen. Hierdurch bildet Kontrapunkt einen
direkten Gegensatz zum Informel und damit auch zu Mohrs Frühwerk,
zu deren Merkmalen es gehört, dass sie das Bildformat, den
Gegenstand, ignorieren. Kontrapunkt verdeutlicht ein
Spannungsverhältnis zwischen Zeichen und Format. Dieses
Spannungsverhältnis ist der eigentliche Bildgegenstand, den das
Zeichen nicht in der Wahrnehmung, sondern erst über die Reflexion
vermittelt.
In der Serie Kontrapunkt wurden zwei aus der Vielfalt von
23.040 möglichen Diagonal-Wegen durch den 6-dimensionalen
Hyperwürfel im Zufallsverfahren ausgewählt. Jede Arbeit besteht
nach Mohr "aus zwei Diagonal-Wegen, die aber mindestens einen Punkt
in der Struktur gemeinsam haben, um so den inhärenten Zusammenhang
visuell aufrecht zu erhalten"25 . Den inneren Zusammennhang dieser Serie
stellen die beiden Diagonal-Wege dar: Alle 15 Bilder zeigen
dasselbe Diagonal-Wege-Paar, jedoch aus unterschiedlicher "Sicht".
Der geänderte Blickwinkel erzeugt ein anderes être graphique
. Determiniert ist die 15-teilige Bildfolge Kontrapunkt
durch die insgesamt 15 verschiedenen Projektionsmöglichkeiten im
6-dimensionalen Raum, mittels deren ein Gebilde in die Ebene
projiziert werden kann. Mohr stellt es dem Betrachter jedoch frei,
die Entstehungsgeschichte dieser Serie nachzuvollziehen. Er selbst
bestimmt seine Generativen Arbeiten : "Meine Kunst ist keine
mathematische kunst, sondern eine aus meinem Erlebnisbereich
geformte Aussage. Ich will keine kalte Mathematik, sondern eine
vitale Philosophie darstellen."26 Nach Bense liegt die Besonderheit einer
Erzeugungsästhetik jedoch darin, dass sie "die methodische
Erarbeitung unbekannter Formen" erlaubt, "deren Methodik aber nur
sinnvoll wird, wenn sie sich in einer Bildfolge aus den
Veränderungen auch erkennen lässt27 . Mohrs Bildserien, insbesondere auch
Kontrapunkt mit seinen variierenden, "individuellen"
Formaten, reflektieren eine wesentliche Struktur der heutigen
Konsumwelt, die die Diversität in der Uniformität mit ein und
demselben Algorithmus ermöglicht.
1 Sonderborg, in: Gabriele Lueg, Studien zur Malerei des deutschen Informel, Aachen 1983 (Diss.)
2 Diesen Begriff führte Max Bense ein, um die maschinell hergestellte Kunst von einer rein durch menschliche Produktivität hervorgegangenen Kunst, einer "natürlichen Kunst", zu unterscheiden.
3 Manfred Mohr, in: Divisibility, Generative Arbeiten 1980-1981, Ausst.-Kat.: Galerie Gilles Gheerbrant, Montréal 1981
4 Manfred Mohr, in: Ausst.-Kat.: Algorithmus und Kunst: Die präzisen Vergnügen, Hamburg 1993, S.38
5 Manfred Mohr, zit. nach Marie-Luise Syring, in: Manfred Mohr, Werkübersicht von 1965-1980, Ausst.-Kat.: Galerie Teufel, Köln 1980, S.9
6 Manfred Mohr, in: Computer Graphics: Une esthétique programmée, Ausst.- Kat.: ARC Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, 1971, S.40
7 Max Bense, kleine abstrakte ästhetik, text 38,
edition rot; unveränd. Nachdruck in: Max Bense, Aesthetica:
Einführung in die neue Aesthetik,
(1. Aufl. 1965) 2. erw. Aufl., Baden-Baden 1982, S.345
8 Manfred Mohr, in: Informatik, Nr.13, 1975, S.40
9 Nach der Definition von Frieder Nake ist ein "Algorithmus eine endliche Liste von Instruktionen, die wohl definiert sind. Für jedes Problem einer Klasse von Problemen liefert der Algorithmus nach endlich vielen Schritten eine Lösung, indem man die Instruktionen eine nach der a nderen ausführt." In: Frieder Nake, Ästhetik als Informationsverarbeitung, Berlin, Heidelberg 1974, S.88
10 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.333
11 Manfred Mohr, in: Algorithmus und Kunst (wie Anm. 4)
12 Vgl. Manfred Mohr, in: Dessins Génératifs, Part II, Travaux 1975-1977, Ausst.-Kat.: Galerie Weiller, Paris 1977
13 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.337. Die von Bense aufgestellte These ist auf höherer Ebene zu diskutieren.
14 Manfred Mohr, in: Informatik (wie Anm. 8)
15 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.338
16 Dietrich Mathy, Poesie und Chaos: Zur anarchistischen Komponente der frühromantischen Ästhetik, München, Frankfurt/Main 1984, S.44
17 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.331
18 Unter einem ikonischen Zeichen versteht Mohr "ein sich selbst reflektierendes Zeichen"; vgl. Manfred Mohr, Cubic Limit, Generative Drawings, Part I, Travaux der 1973-1975, Ausst.-Kat.: Galerie Weiller, Paris 1975
19 Manfred Mohr, zit. nach Richard W.Gassen, "Zehn Aspekte zum Werk von Manfred Mohr", in: Manfred Mohr, Fractured Symmetry, Algorithmische Arbeiten 1967-1987, Ausst.-Kat.: Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein 1987, S.11
20 Manfred Mohr, in: Algorithmus und Kunst (wie Anm.4)
21 ebda.
22 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.214f
23 ebda., S.215
24 ebda., S.253
25 Manfred Mohr, Brief an den Galeristen Heinz Teufel vom 26.5.1993
26 Manfred Mohr, zit. nach Richard W. Gassen (wie Anm.19), S.16
27 Max Bense, zit. nach Marie-Luise Syring (wie Anm.5), S.10