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Manfred Mohrs abstrakte Ästhetik


von Marion Keiner

I

Die präzis, rational und logisch konstruierten Arbeiten von Manfred Mohr wurzeln im Informel - jener Malerei, die den Gestus, die Handschrift, und damit die Individualität des Künstlers und der Kunst betont. Sie wurzeln zudem im Jazz und in der Informatik, nicht aber, wie man vermuten könnte, in der konstruktiv-konkreten oder systematischen Kunst.

Mohrs frühes Vorbild als Maler war K.R.H. Sonderborg, einer der Hauptvertreter des europäischen Informel. In schwarzer Tusche, einer rasch trocknenden Flüssigkeit, die gemeinhin für Skizzen zur flüchtigen Fixierung von Entwürfen und Einfällen verwendet wird, thematisiert Sonderborg seit 1953 in seinen Bildern den sich augenblicklich vollziehenden Malakt, deren Entstehungsmoment seit 1960 im Bildtitel hervorgehoben wird. Sonderborgs Bildwelt ist nicht Zeichen einer ausserbildlichen Wirklichkeit, vielmehr fallen hier Zeichen und Bezeichnetes zusammen. Dementsprechend formuliert der Künstler, der übrigens wie Mohr Jazz-Musiker ist, seinen Ausdruckswillen: "Es liegt mir daran, dass sichtbar ist: Die Schönheit und Rhythmik unserer technischen Umwelt und der Schlag des menschlichen Herzens."1 Sonderborg integriert somit die Technik in seine ästhetische Welt und überträgt deren zentrales Kriterium Schönheit auf technische Produkte. Allerdings bleibt ungeklärt, ob Schönheit für ihn eine substantielle oder eher strukturelle, eine gegenständliche oder eher funktionelle Bedeutung hat.

Von seinem um eine Generation älteren Malerkollegen übernimmt Mohr 1962 die unbunte Farbskala, Schwarz und Weiss, die er manchmal mit Grau erweitert. Diese Ökonomie der Ausdrucksmittel hält er besonders geeignet für seine "künstliche Kunst"2 : "Die ausschliessliche Verwendung von Schwarz und Weiss als bildnerisches Gestaltungsmittel erlaubt mir, ein rigoroses System von Binär-Entscheidungen zu beschreiben."3 Diese Reduktion erweist sich als "absolute Kommunikationsbasis" in seinem Dialog mit Computer und Plotter. Beide, Rechenmaschine wie auch mechanisches Zeichengerät, setzt Mohr seit 1969 als Hilfsmittel zur Realisation seiner künstlerischen Vorstellungen ein. Vorausgegangen war ein intensives Studium von Max Benses Schriften zur Ästhetik, wodurch die Semiotik zum zentralen Thema seines Denkens wurde und sich ihm ein neues künstlerisches Ziel eröffnete: "Eine rationale Herstellung von Kunst!"4 , eine rationale Erzeugung von Zeichen. Hierin sah Mohr die Möglichkeit, sowohl seine Intentionen präziser als in einer von subjektiven Empfindungen gesteuerten Malerei vermitteln zu können, als auch den ästhetischen Prozess dem Horizont der technischen Zivilisation zu integrieren: "Die technische und soziale Entwicklung verlangt von uns mehr und mehr ein logisches und abstraktes Denken. Es ist daher durchaus verständlich, dass auch im Bereich der Ästhetik nach logischen Zusammenhängen und Gesetzmässigkeiten geforscht wird."5 Ausgehend von spontaner Aussage, von informellen Bildern, konstruiert Mohr Aussagen, indem er in analytischen Verfahren aus seinen Werken die ästhetische Information separiert. Dokumentiert ist die sukzessive Systematisierung des Bildaufbaus in Bildern und Serien der sechziger Jahre wie z.B. Frühe Arbeiten (1965-66), Subjektive Geometrie (1966-1969) und Frühe algorithmische Arbeiten (1969-1972). Sie zeigen zunehmend eine Bevorzugung geometrischer und damit konstruierbarer Formen gegenüber irrationalen Elementen. Bereits in dieser Übergangsphase werden seine Werke zusätzlich von Texten begleitet. Sie erläutern u.a. die Herstellungsprozeduren der Computergrafiken, so dass ihre Konstruktion für jeden nachvollziehbar wird. Bewusst hebt Mohr das artistisch-t echnologische gegenüber dem metaphysisch-spekulativen Moment der Bildschöpfung hervor, schliesslich liegt ihm daran, die "mystischen Barrieren, hinter denen sich ein Künstler verbergen kann"6 , abzubauen. Hierbei hilft ihm der Computer, der die Umsetzung des schöpferischen Akts in einen logischen Prozess fordert. Dies führt einerseits zu einer Theoretisierung und Intellektualisierung der ästhetischen Produktion und andererseits zum Übergang von einer schöpferisch-emotionalen zu einer emotionslosen und logischen Bildkonzeption und -realisation. Mohr geht es bei seiner Kunst daher nicht primär darum, dass das Mitwirken der Maschine wahrnehmbar bleibt, da sie nur als Instrument fungiert. Vielmehr soll erkannt werden, dass seine Computergrafiken Gegenstand einer semiotischen, einer syntaktischen, und damit einer wissenschaftlichen Ästhetik sind, deren zentraler Begriff eben nicht die nur durch subjektive Interpretation empfindbare Schönheit ist, sondern nach Bense ein ästhetischer Zustand, der objektiv feststellbar und beschreibbar ist7 . Im Unterschied zu Sonderborg will Mohr mit seinen Arbeiten einen Erkenntnisprozess beim Betrachter auslösen: "Wesentlicher erscheint mir, dass er (sc. der Betrachter) eine ungewöhnliche ästhetische Form akzeptiert, dass ihn eine neue Einsicht erfüllt, die nicht mehr auf der Unterscheidung zwischen 'Schönheit' und 'Hässlichkeit' einzelner Formen beruht, sondern auf der Struktur, der Konstruktion dieser Formen und auf ihren statistischen Beziehungen zueinander. Nur das Ganze zählt."8 Mohrs Werke sind daher als Stimulans des Verstandes und weniger als Stimulans der Empfindung konzipiert.


II

Voraussetzung der "künstlichen Kunst" ist das Erfinden von Algorithmen9 , von Regeln im Sinne von Spielregeln, zur Erzeugung von Zeichen. Dies ist vor allem ein rationeller Ansatz zur Bildkonzeption, da der Algorithmus für jedes Problem einer Klasse von Problemen eine Lösung liefert. Die Idee des Algorithmus überträgt Mohr auf seine Kunst durch die fast ausschliessliche Erstellung von Bildserien. Seit 1969, also mit der Einführung des Computers und Plotters, betitelt er seine Bilder und Grafiken Generative Arbeiten, da die Zeichen durch die rationale Struktur der Programmierung und durch generative Prozesse entstanden sind. Sie gehören einer generativen Ästhetik an. Unter generativer Ästhetik versteht Bense: "...die Zusammenfassung aller Operationen, Regeln und Theoreme..., durch deren Anwendung auf eine Menge materialer Elemente, die als Zeichen fungieren können, in diesen ästhetische Zustände (Verteilungen bzw. Gestaltungen) bewusst und methodisch erzeugbar sind."10 Die generierten Zeichen nennt Mohr êtres graphiques, und als solche sind sie nicht der Welt des Scheins oder gar der Idealität zuzuordnen: Sie besitzen als Resultat einer Berechnung ein objektives, eigenständiges und feststellbares Sein. Ihr "logischer Inhalt" ist ihre Entstehungsgeschichte. In den Generativen Arbeiten fungieren die Zeichen vor allem als Träger ästhetischer Information. Dabei ist ihre Herkunft zwar grundlegend, aber nicht unbedingt wichtig: "Das Zeichen muss sich vom logischen Inhalt visuell loslösen können, um sich als abstrakte Form darzustellen. Es sollte mindestens aber ein Gleichgewicht aus logischem Inhalt (Herkunft) und ästhetischer Information (Ziel) erreicht werden."11 Die Herstellung des von Mohr geforderten dynamischen Zustandes gelingt experimentell: "Es scheint mir wichtig an dieser Stelle zu betonen, dass nicht jeder zufällige Prozess zufriedenstellende Resultate ergibt. Durch richtungsweisende Entscheidungen müssen Denkprozesse sichtbar werden, die gewisse Verfahren verändern oder vielleicht sogar verwerfen, um pseudo-aesthetische Information zu verhindern."12 Die êtres graphiques gehen aus einem Prozess hervor, der in seiner Struktur mit dem Spiel vergleichbar ist. Ebenso wie im Spiel sind Anfang und theoretische Zielvorstellung bekannt und der Verlauf durch Regeln festgelegt. Die Besonderheit besteht jedoch darin, dass das Geflecht aus Regeln nicht vollständig determiniert ist: Die Generierung von Zeichen weist in ihrem Verlauf Verzweigungen auf, an denen freie Entscheidungen bzw. Zufallsentscheidungen zu treffen sind. Diese Zufallsentscheidungen halten den Rechenprozess aufrecht, wobei Zufall, dem Arpschen Zu-fallen oder der Intuition verwandt, von Mohr positiv verstanden wird: Er ist die "Peitsche", die das Programm vorwärts treibt. Insbesondere aber garantiert er nach Bense auch die Singularität des maschinell erzeugten ästhetischen Objekts.13 Die schwach determinierte Zeichenherstellung unterscheidet sich daher von der stark determinierten Produktion technischer Gebilde. Ausserdem ist das technische Produkt antizipierbar, während das ästhetische Objekt sich der Antizipation entzieht.

Auch wenn die mit Antizipation und Vorhersehbarkeit verknüpfte Präzision, ein ? Gestaltungsmittel unserer technischen Zivilisation, der Vorhersehbarkeit der ästhetischen Produktion widerspricht, macht Mohr sie zur Konstante in seinen Generativen Arbeiten und nutzt sie, um Erkenntnisse über den kreativen Prozess zu gewinnen: "Der Beitrag des Computers ist also völlig klar: Er zwingt den Künstler zu absoluter Präzision, und er macht die Genauigkeit zu einem künstlerischen Gestaltungsmittel. Präzision bedeutet für den Künstler die Verpflichtung, über die spontane Intuition hinaus weiterzugehen, die Verpflichtung sich auszudrücken, eine originäre Idee in ein Programm umzusetzen, das alle Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung enthält. Der Lohn der Präzision ist die Gewissheit, dass alles realisierbar ist, was der Künstler definieren kann und will."14 Präzision bezieht Mohr allerdings nur auf das mathematisch Beschreibbare bzw. darauf, was das zwischen "Schöpfer und Werk geschaltete Vermittlungsschema"15 transponieren kann. In jedem Fall ist das durch Computer erstellte künstliche Kunstwerk ein vom traditionellen Bild abstrahiertes. Indessen kann bei beiden die ästhetische Information nicht vorhergesehen werden. Nach Bense ist die Kunst, die nur in der Realisation existiert, in Bezug auf die Realisationsmittel statistisch beschreibbar. Wie jedes Zeichen ist auch das Kunstwerk nur relativ zu seinem Mittelrepertoire analysierbar.


III

Mohr führt 1973 FÜr die zeichenerzeugenden generativen Prozesse den Würfel als eine Art "Basisstruktur" in seine Arbeiten ein. In der Serie Cubic Limit (1973-1977) wird das stereometrische Gebilde als festgefügte Struktur, als System aus Linienrelationen, zur Zeichenherstellung verwendet, wobei die einzelnen Elemente des Würfels, wie z.B. seine Kanten, das Repertoire bilden. Der Zeichenvorrat besteht aus den Elementen eines parallelperspektivisch projizierten Würfels. Durch diese vom Standort des Betrachters unabhängige Projektion ist die Zeichenmenge als Mittelrepertoire bestimmt, dem das Zeichen als ein Mittel bzw. als ein Träger ästhetischer Information angehört. Die Wahl des Würfels als Grundkörper für seine Bildwelt ist Ausdruck einer Weltsicht des Künstlers. Im Unterschied zur Kugel, die als Symbol des Vollkommenen, der Ordnung und des Universums traditionell den Himmel repräsentiert, ist der kantige Würfel Symbol des Soliden, Festen, des Unveränderlichen und repräsentiert unter den fünf platonischen Körpern die Erde. Im sphärischen Weltbild der Antike wurde nach den Gesetzmässigkeiten hinter den Erscheinungen gesucht, um schliesslich jenes lückenlose Geflecht von Gesetzen und Algorithmen aufzustellen, das den einzigartigen Kosmos definieren soll. Die Vertreter des kubischen Weltbildes hingegen kennen die störenden Kanten, die den Lauf des Würfels bremsen. Sie wissen ob des Unvorhersehbaren, des Zufalls, der sich hinter der Ordnung verbirgt. Die Gegensätze Ordnung und Unordung bzw. Zufall treffen jedoch in der dynamischen Bewegung des Würfels ein Arrangement, in dem die Unordnung Baustein einer sensiblen Ordnung ist. Doch dieses wahrzunehmen, bedarf es der Aufhebung der Symmetrie des Würfels. Mit der Zerstörung der Symmetrie durch Anbringen der Würfelaugen wandelt sich das Gebilde in ein Spielzeug, das fähig ist, den Menschen der Alltagswelt zu entreissen. Im Spiel wie auch in den Arbeiten Mohrs fungiert der Würfel als ein Mittel. Die Verbindung zwischen Spiel und Kunst leistet die Einbildungskraft, nach Kant das "Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen". Dietrich Mathy stellt heraus: "Es scheint, als hätten die Romantiker den Begriff der Einbildungskraft auf Grund seiner Affinität zur Sphäre des Spiels - ausgezeichnet durch den Schein einer wesentlich der Willkür verhafteten Schönheit qua Zweckmässigkeit ohne Zweck und ineins damit einer wesentlich anarchischer Spontaneität verhafteten Freiheit qua Gesetzmässigkeit ohne Gesetz - einerseits, und seiner die Grenzen der Erfahrung ästhetisch transzendierenden Funktion wegen - die dem Wirklichen das Mögliche vorhält - andererseits, mit der Vorstellung des Chaotischen in Verbindung gebracht."16

Mohrs Entscheidung, ein geometrisches Gebilde als "Urstruktur" seinen Generativen Arbeiten zugrunde zulegen, kann mit Benses Aesthetica begründet werden: "Der Zusammenhang von Kunst und Mathematik ist altbekannt; dass die formalen Interessen der Kunst mathematisch, arithmetisch oder geometrisch beschreibbar sind, ist nicht nur erst seit der Renaissance Bestandteil der Ästhetik... Vom Standpunkt der statistischen und informationellen Ästhetik ist dazu folgendes zu sagen: jede extensionale Realität, die ästhetische wie physikalische, ist mathematisch beschreibbar; ihre arithmetischen oder geometrischen (statistischen und topologischen) Strukturen gehören zum Wesen ihres manipulierbaren und determinierbaren Aufbaus aus materialen Elementen. Der Vorzug des mathematischen Trägers als einer besonderen Klasse des semantischen Trägers ästhetischer Botschaften (künstlerische Gestaltungen) beruht im wesentlichen auf zwei Eigenschaften: Erstens auf den zugleich hohen und subtilen Redundanzmerkmalen, die durch den mathematischen Träger der künstlerischen Realität gegeben werden und wodurch diese zugleich determinierbare Präzision, aber auch nichtdeterminierbare Fragilität gewinnt... Der grundsätzliche (seinsthematische, ontologische) Unterschied zwischen mathematischem und ästhetischem Sein, dass jenes auf maximalen Redundanzen und Idealität, dieses aber auf maximalen Innovationen und Realität beruht, bleibt also gerade in der Ausnutzung mathematischer Träger ästhetischer Botschaften spannungsvoll und ästhetisch überraschend erhalten."17


IV

Anknüpfend an den Bildbegriff wie auch an die Begriffe Nachahmung und Abstraktion untersucht Mohr in der Serie Cubic Limit die Ikonizität18 bzw. die Nichtikonizität eines Zeichens durch systematische Demontage der zwölf Würfelkanten oder in umgekehrter Leserichtung durch die Komposition eines Würfels. Die Elimination der Kanten bewirkt einen Informationsverlust hinsichtlich des Grundkörpers, jedoch einen Informationsgewinn hinsichtlich des ästhetischen Zeichenprozesses, insofern die durch Destruktion herbeigeführte Störung der Basisstruktur vom Auge bzw. von der Erinnerung bis zu einem gewissen Grad aufgehoben wird. Der Ikonizitätsgrad eines Zeichens hängt also nicht nur von der seins-verändernden bzw. seins-modifizierenden Operation der Demontage ab, sondern auch vom Betrachter. Die Ikonizität eines Zeichens lässt sich daher nicht eindeutig bestimmen.
Der ästhetische Zeichenprozess wird von Zeichen erzeugenden Funktoren (z.B. Demontage, Erinnerung) beherrscht. Ästhetisch interessant sind insbesondere Fragmente, abgerissene Strukturen, Unterbrechungen oder Weglassungen, da von ihnen eine visuelle Instabilität ausgeht. Dies lässt erkennen, dass der syntaktische Aufbau eines Kunstwerks "Grundlage eines visuellen und intellektuellen Verständnisses ästhetischer Zusammenhänge" sein kann. Die Serie "Cubic Limit" führt zur Zeichengenerierung verschiedene Operationsmodelle, eine generative Grammatik, ein: Rotation, Kombination, Statistik, logische Symbolik, Addition/Subtraktion, Restriktion und Extension. Durch die systematische Anwendung dieser Operationen auf die Würfelelemente der jeweiligen Repertoires entsteht eine beeindruckende Vielzahl neuer ästhetischer Zeichen. Diese Vielfalt resultiert jedoch nicht nur aus einer unterschiedlichen Verknüpfung eines immer gleichbleibenden Zeichenvorrats, vielmehr ändert Mohr auch das Mittelrepertoire. In Cubic Limit II wird die Symmetrie des Würfels zerstört. Symmetrie, im allgemeinen mit Schönheit und Ordnung assoziiert, ist für Mohr ein Synonym für Unbeweglichkeit und Stabilität oder auch Tod19 und damit auch für evolutionären Stillstand. Dies entspricht der Theorie vom Urknall, nach der der Zusammenbruch eines symmetrischen Zustands Voraussetzung für die Entstehung der Welt war. Für Mohr entsteht durch das Stören bzw. Auflösen der Symmetrie "ein Generator neuer Aufbau- und Spannungsverhältnisse"20 . Die hiermit einhergehende Destruktion führt jedoch nicht, wie aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik spekulativ abgeleitet wurde, zu einem Zerfall der 'Welt'. Die Computergrafiken zeigen, dass bei der methodischen Dekomposition bzw. Demontage endlich viele alternative 'Welten' selektiert werden können. Diese Welten, Zeichenwelten, sind vom Zufall durchsetzt und können aufgrund ihrer instabilen und unwahrscheinlichen Ordnung Erkenntnisprozesse auslösen.

Durch das Zerbrechen der Symmetrie wird der syntaktische Zeichencharakter des Gestaltungs- und Kompositionsmittels Symmetrie erkennbar. Das Aufheben dieser Ordnungsstruktur im Bild P-196-EE aus der Serie Cubic Limit lässt Raum für alternative Interpretationen hinsichtlich der Beziehung zwischen Quadratfenster und Kippfigur. Keine der alternativen Interpretationen vereindeutigt indessen das Verhältnis, was beim Betrachter die Suche nach einer höheren Ordnung, einer Symmetrie, 'erzwingt'. Der sich hier vollziehende Erkenntnisprozess beleuchtet den Weg von der Alternative zur Symmetrie, wobei die mit der Alternative verbundene Freiheit von der an Ordnung, d.h. an Regeln gebundenen Symmetrie eingeholt wird. Dieser Vorgang reflektiert den ästhetischen Produktionsprozess innerhalb der Generativen Arbeiten Mohrs. Er beginnt, umgekehrt, mit dem Erstellen von parametrischen Regeln und erst im Prozessverlauf sind variable Entscheidungen zu treffen. Dieses übernimmt der Zufall, womit ein emotions- bzw. wertfreies Auswählen garantiert wird. Es fallen folgende Entscheidungen: "Ja-/Nein-Entscheidungen, Auswählen aus mehreren möglichen Elementen, Aufteilen von Elementen nach statistischen Gesichtspunkten."21
In den Arbeiten Mohrs bestimmt der Akt der Wahl den ästhetischen Prozess. Hierzu sagt Bense: "Tatsächlich sind solche ästhetischen Systeme genau wie die Information Ausdruck einer Verteilungs- und Auswahlfunktion, und beide, also die relative Häufigkeit eines Zeichens wie auch die relative Freiheit, die man besitzt, es unter anderen verfügbaren Möglichkeiten auszuwählen, sind zu Beginn des ästhetischen Prozesses im Verhältnis zur Häufigkeit und Auswahlmöglichkeit anderer Zeichen (unter den überhaupt vorgegebenen) im allgemeinen keineswegs statistisch bevorzugt. Im grossen und ganzen sind die Wahrscheinlichkeiten, ausgewählt zu werden und zu erscheinen, für alle Zeichen der verfügbaren Menge zunächst einmal gleich."22 Der2 ästhetische Zeichenprozess gehört zu "jener Klasse von Prozessen, die mit gleichen Wahrscheinlichkeiten, also rein stochastisch, beginnen, in deren Verlauf jedoch die Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Zeichen ausgewählt werden können und auftreten, immer grösser wird, indessen die Wahrscheinlichkeit für gewisse andere... sich immer stärker verringert und schliesslich verschwindet"23 . Die ästhetische Information als Funktion der Selektion vergrössert sich mit der Freiheit der Wahl, mit Warren Weaver, "die Unsicherheit, dass die wirklich ausgewählte Nachricht auch eine bestimmte" ist, ist unbestimmt. Eine sukzessive Vergrösserung der ästhetischen Information in Abhängigkeit von einem erweiterten Zeichenrepertoire ist insbesondere in Mohrs Serien seit 1978 festzustellen. Unvorhersehbarkeit und Unwahrscheinlichkeit sind in seinen Bildern mit der Fragilität der Formen in Verbindung zubringen.

In den Wandobjekten der darauffolgenden Serie Divisibility (1980-1986) weitet sich der Zerlegungsprozess auf den Bildträger aus, wobei auch die Technologie des Herstellens des Kunstobjekts in den Zeichenprozess einbezogen wird. Der ästhetische Zeichenprozess wird in diesem Zusammenhang als ein gegenstandserzeugender Prozess begriffen. Erzeugung und Wachstum thematisiert Mohr in dieser Bildfolge. Die Basisstruktur, der Würfel, ist im isolierten Einzelbild nicht mehr zu identifizieren. Nach Mohr hat sich das Zeichen von "seinem logischen Inhalt visuell loslösen können, um sich als abstrakte Form darstellen zu können". Dargestellt ist ein durch Informationsübertragung sich fortpflanzendes, abstraktes Zeichen, das sequentiell und ohne Richtungsbeschränkung wächst und sich ausdehnt. Die Loslösung der Form von ihrer Entstehungsgeschichte wird dahingehend deutbar, dass der ästhetische Prozess nicht nur ein Prozess der Schöpfung, sondern auch der Übertragung, der Kommunikation, ist: Die ästhetische Information wird durch die Vierteilung eines Würfels erzeugt. Da sich nicht jedes der vier Würfel-Segmente als ein neues Zeichen in einem neuen Darstellungsfeld reproduziert, ist die Kommunikation im Verhältnis zur ästhetischen Information selektiv. Diese neuen Zeichen pflanzen sich wiederum selektiv in jeweils neuen Darstellungsfeldern fort: in Darstellungen, in Darstellungen von Darstellungen etc. und dort als Zeichen vom Zeichen, als Zeichen vom Zeichen vom Zeichen etc. In diesen Arbeiten erscheinen Konturen "als System sich ausweitender (sich ausdehnender) möglicher Konturen und dieses Konturensystem, das den Gegenstand in der 'Verworrenheit des Objekts' zeigt, wie Whitehead formuliert, stellt gar kein System der Begrenzung, sondern ein System der Ausdehnung dar, das nicht Form, sondern Funktion vermittelt, das einen Gegenstand nicht im Sinne des isolierbaren Objekts, sondern im Sinne seiner zusammenhängenden 'Congredienz', d.h. Ereignistotalität liefert"24 .

Nahezu gleichzeitig mit Divisibility beginnt die Arbeit an der Serie Dimensions (1978-1989). Ging es in Divisibility um Wachstum bzw. Vermehrung von Zeichen, so thematisiert Mohr die Vergrösserung des Zeichenvorrats in Dimensions . Auch hier ist die Basisstruktur, der Würfel, nicht mehr auszumachen. Der 3-dimensionale Kubus in Cubic Limit wird zum 4-dimensionalen, 32 Kanten zählenden Hyperwürfel, mittels dessen Mohr dem Betrachter neue Einblicke in den ästhetischen Prozess gibt. Der ausserhalb der visuellen Erfahrung liegende Körper setzt sich in der Ebene aus acht Würfeln zusammen, wobei jede Kante eines Würfels gleichzeitig zu drei verschiedenen, aber anliegenden Würfeln gehört. Mit dieser festgefügten Struktur generiert Mohr Zeichen, die ihre Komplexität in verschiedenen Dimensionen entfalten. Sie lassen dem Interpreten einen weiten Spielraum für Imagination und Assoziationen, der in der visuellen Ambiguität der Zeichen angelegt ist. Polyvalenz und Mehrdeutigkeit werden als artistisches Moment in Mohrs Metasprache methodisch konstruiert. Sie resultieren u.a. aus der Projektion des 4-dimensionalen Körpers sowie aus der systematischen Demontage des geometrischen Gebildes. Durch die Elimination von Linienelementen wird die Einheit bzw. Ganzheit des Körpers aufgehoben, und es tritt Ambiguität auf, die im offenen Konnex der aneinander verbundenen Zeichen beruht.
Die Arbeit P-224, bestehend aus vier Teilen, lässt den Zusammenhang erkennen: Die vier "spitzen" Bilder berühren sich nicht nur von aussen über zwei Ecken, vielmehr ist auch über die horizontalen Linien ein innerer Zusammenhang sichtbar. Damit ist jedes Bild nicht mehr nur ein sich selbst "reflektierendes" Zeichen, sondern Konstituent eines komplexen Zusammenhangs, einer Ganzheit, einer Konfiguration. Dieser geschlossene Konnex stellt sich dem Interpreten in einem integrierenden Prozess dar, in dem der Graph des Hyperwürfels entwickelt wird.

Die Reliefserie Laserglyphs (1991-1992) basiert auf dem 6-dimensionalen Hyperwürfel, einer Struktur mit 32 Diagonalen und 32x720 = 23.040 Diagonal-Wegen. Die immense Vergrösserung des Repertoires macht die Wahl von vier bestimmten Diagonal-Wegen zur Erzeugung eines Laserglyphs unwahrscheinlich. Der Titel dieser Serie verweist auf das Herstellen, auf die materiale Realisation der Reliefkonzeption und lenkt den Blick auf das materiale Gefüge aus Diagonal-Wegen, das als komplexer Zusammenhang von Indizes in Erscheinung tritt. Die Anschaulichkeit der ästhetischen Realität beruht daher auch nicht auf einem abbildenden Ikonismus, sondern auf einer kompositionellen Indexikalität, wodurch der Objektbezug in den Vordergrund gestellt ist. Für den Betrachter der weissen Reliefs existiert der ästhetische Zustand einerseits aus der präsentierten physikalischen Realität des künstlichen Gegenstandes des Kunstwerks und andererseits aus der repräsentierten in reflektierendem Weiss getauchten spirituellen Realität seines original singulären Zustands. Diese Doppelrealität wird in den Laserglyphs auch insofern thematisiert als die physikalische Realität der festen, harten und schweren Stahlreliefs hinter der in entmaterialisierendem Weiss gehüllten Zeichenrealität des Kunstobjekts zurücktritt, in dem die Diagonal-Wege fragil wirken und in ihrem Verlauf schwerelos ihre Bahnen und Richtungen zu ändern scheinen. Hinsichtlich ihres Zeichen internen Interpretantenbezugs repräsentieren die Laserglyphs in ihrer Eigenschaft als künstlerische Objekte durch die Gesamtheit der künstlerisch konstruierten materiellen Substanz den komplexen Zusammenhang ihrer indexikalischen Verknüpfungen. Für den Rezipienten entfaltet sich die ästhetische Realität der von Mohr geschaffenen rahmenlosen Reliefs in einem Gefüge von Diagonal-Wegen, deren Interpretant ein offener Konnex bildet.

Die neueste Serie Kontrapunkt (1993-1994) verweist in ihrem Titel auf den umfassenderen Rahmen, in dem Mohrs Kunst zu sehen ist. Mohr, selbst Jazz-Musiker, stellt stets haraus, dass er wichtige Impulse vom französischen Komponisten Pierre Barbaud erhalten habe. Inwieweit Kompositionselemente der Musik, insbesondere der Improvisation, den Arbeiten integriert sind, könnte Thema einer neuen Untersuchung sein.

Die 15-teilige Serie Kontrapunkt baut wie die Laserglyphs auf dem 6-dimensionalen Hyperwürfel auf. Die abstrakten Formen haben sich von ihrem logischen Inhalt gelöst. Es fällt auf, dass die Formen, bizarre, expressive Bewegungslinien, die Bildgrenzen berühren, als ob sie einen Hinweis auf die Bildgrenzen zu geben beabsichtigen. Hierdurch bildet Kontrapunkt einen direkten Gegensatz zum Informel und damit auch zu Mohrs Frühwerk, zu deren Merkmalen es gehört, dass sie das Bildformat, den Gegenstand, ignorieren. Kontrapunkt verdeutlicht ein Spannungsverhältnis zwischen Zeichen und Format. Dieses Spannungsverhältnis ist der eigentliche Bildgegenstand, den das Zeichen nicht in der Wahrnehmung, sondern erst über die Reflexion vermittelt.
In der Serie Kontrapunkt wurden zwei aus der Vielfalt von 23.040 möglichen Diagonal-Wegen durch den 6-dimensionalen Hyperwürfel im Zufallsverfahren ausgewählt. Jede Arbeit besteht nach Mohr "aus zwei Diagonal-Wegen, die aber mindestens einen Punkt in der Struktur gemeinsam haben, um so den inhärenten Zusammenhang visuell aufrecht zu erhalten"25 . Den inneren Zusammennhang dieser Serie stellen die beiden Diagonal-Wege dar: Alle 15 Bilder zeigen dasselbe Diagonal-Wege-Paar, jedoch aus unterschiedlicher "Sicht". Der geänderte Blickwinkel erzeugt ein anderes être graphique . Determiniert ist die 15-teilige Bildfolge Kontrapunkt durch die insgesamt 15 verschiedenen Projektionsmöglichkeiten im 6-dimensionalen Raum, mittels deren ein Gebilde in die Ebene projiziert werden kann. Mohr stellt es dem Betrachter jedoch frei, die Entstehungsgeschichte dieser Serie nachzuvollziehen. Er selbst bestimmt seine Generativen Arbeiten : "Meine Kunst ist keine mathematische kunst, sondern eine aus meinem Erlebnisbereich geformte Aussage. Ich will keine kalte Mathematik, sondern eine vitale Philosophie darstellen."26 Nach Bense liegt die Besonderheit einer Erzeugungsästhetik jedoch darin, dass sie "die methodische Erarbeitung unbekannter Formen" erlaubt, "deren Methodik aber nur sinnvoll wird, wenn sie sich in einer Bildfolge aus den Veränderungen auch erkennen lässt27 . Mohrs Bildserien, insbesondere auch Kontrapunkt mit seinen variierenden, "individuellen" Formaten, reflektieren eine wesentliche Struktur der heutigen Konsumwelt, die die Diversität in der Uniformität mit ein und demselben Algorithmus ermöglicht.




Anmerkungen

1 Sonderborg, in: Gabriele Lueg, Studien zur Malerei des deutschen Informel, Aachen 1983 (Diss.)

2 Diesen Begriff führte Max Bense ein, um die maschinell hergestellte Kunst von einer rein durch menschliche Produktivität hervorgegangenen Kunst, einer "natürlichen Kunst", zu unterscheiden.

3 Manfred Mohr, in: Divisibility, Generative Arbeiten 1980-1981, Ausst.-Kat.: Galerie Gilles Gheerbrant, Montréal 1981

4 Manfred Mohr, in: Ausst.-Kat.: Algorithmus und Kunst: Die präzisen Vergnügen, Hamburg 1993, S.38

5 Manfred Mohr, zit. nach Marie-Luise Syring, in: Manfred Mohr, Werkübersicht von 1965-1980, Ausst.-Kat.: Galerie Teufel, Köln 1980, S.9

6 Manfred Mohr, in: Computer Graphics: Une esthétique programmée, Ausst.- Kat.: ARC Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, 1971, S.40

7 Max Bense, kleine abstrakte ästhetik, text 38, edition rot; unveränd. Nachdruck in: Max Bense, Aesthetica: Einführung in die neue Aesthetik,
(1. Aufl. 1965) 2. erw. Aufl., Baden-Baden 1982, S.345

8 Manfred Mohr, in: Informatik, Nr.13, 1975, S.40

9 Nach der Definition von Frieder Nake ist ein "Algorithmus eine endliche Liste von Instruktionen, die wohl definiert sind. Für jedes Problem einer Klasse von Problemen liefert der Algorithmus nach endlich vielen Schritten eine Lösung, indem man die Instruktionen eine nach der a nderen ausführt." In: Frieder Nake, Ästhetik als Informationsverarbeitung, Berlin, Heidelberg 1974, S.88

10 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.333

11 Manfred Mohr, in: Algorithmus und Kunst (wie Anm. 4)

12 Vgl. Manfred Mohr, in: Dessins Génératifs, Part II, Travaux 1975-1977, Ausst.-Kat.: Galerie Weiller, Paris 1977

13 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.337. Die von Bense aufgestellte These ist auf höherer Ebene zu diskutieren.

14 Manfred Mohr, in: Informatik (wie Anm. 8)

15 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.338

16 Dietrich Mathy, Poesie und Chaos: Zur anarchistischen Komponente der frühromantischen Ästhetik, München, Frankfurt/Main 1984, S.44

17 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.331

18 Unter einem ikonischen Zeichen versteht Mohr "ein sich selbst reflektierendes Zeichen"; vgl. Manfred Mohr, Cubic Limit, Generative Drawings, Part I, Travaux der 1973-1975, Ausst.-Kat.: Galerie Weiller, Paris 1975

19 Manfred Mohr, zit. nach Richard W.Gassen, "Zehn Aspekte zum Werk von Manfred Mohr", in: Manfred Mohr, Fractured Symmetry, Algorithmische Arbeiten 1967-1987, Ausst.-Kat.: Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein 1987, S.11

20 Manfred Mohr, in: Algorithmus und Kunst (wie Anm.4)

21 ebda.

22 Max Bense, Aesthetica (wie Anm.7), S.214f

23 ebda., S.215

24 ebda., S.253

25 Manfred Mohr, Brief an den Galeristen Heinz Teufel vom 26.5.1993

26 Manfred Mohr, zit. nach Richard W. Gassen (wie Anm.19), S.16

27 Max Bense, zit. nach Marie-Luise Syring (wie Anm.5), S.10




Copyright by Dr. Marion Keiner, aus Monographie 'Manfred Mohr', Waser Verlag Zürich 1994