.... Manfred Mohr hat schon 1970 algorithmische
Fingerübungen angestellt. In seinen Pseudoschriften hat er die
lineare Struktur des Schreibens von links nach rechts und von oben
nach unten ausgenutzt, um Textur zu Rasterflächen werden zu
lassen. Bald schon findet er ein Thema, das er seitdem in
unermüdlich neuen Varianten durchstreift: den
Hyperwürfel. Es kommt in diesem Aufsatz auf keine
mathematischen Details an. Deswegen genügt ein Hinweis, um das
Thema anklingen zu lassen, aus dem Manfred Mohr seit Mitte der
siebziger Jahre Zeichen schafft. Das Thema ist der
Hyperwürfel.
Ein Hyperwürfel ist ein Würfel im vierdimensionalen Raum.
Das ist ein Gebilde, das in vier Dimensionen dem entspricht, was
wir aus drei Dimensionen ("Würfel"), zwei Dimensionen
("Quadrat") und einer Dimension ("Strecke") schon kennen. Nur um
eine Andeutung zu machen: Ganz wie der uns vertraute Würfel
begrenzende Seitenflächen besitzt, die Quadrate sind, so
besitzt der Hyperwürfel Begrenzungsgebilde, die Würfel
sind (es sind acht Stück).
Manfred Mohr läßt nun, metaphorisch gesprochen,
Bewegungen im Hyperwürfel ausführen: Wege entlang der
vielen dort vorhandenen Diagonalen zum Beispiel. Er wirft Blicke
auf den Hyperwürfel, schneidet ihn, läßt ihn
rotieren. Das jeweils entstehende Gebilde projiziert er in den uns
vorstellbaren dreidimensionalen Raum. Von dort muß es noch
einmal auf die flache Bildebene projiziert werden. Es entstehen
sehr charakteristische Zeichen, spröde Balkengebilde in
Schwarz und Weiß (gelegentlich tritt ein vornehmes Grau im
Hintergrund in Erscheinung).
Manfred Mohr hat mit seinem so sehr unsinnlich erscheinenden Thema
einen Zugang zu einer Zeichenwelt gefunden, die ihm schier
unerschöpfliche Quelle seiner eigenen Handschrift geworden
ist. Man mag seine komplexen Zeichen nicht eingängig finden -
dahingestellt. Was sie jedoch in jedem Falle auszeichnet, ist ihre
Unverwechselbarkeit. Sie sind klarer Ausdruck eines gestalterischen
Willens, der sich mit Hilfe des programmierten Computers Bahn sucht
und bricht.
Die großen, fast immer in Serie kommenden Bilder Mohrs tragen
die Berechnung durch den Computer als wichtigsten Moment ihrer
Existenz in sich. Sie sind aber in keiner Weise als Bilder aus dem
Computer zu erkennen. Sie drücken auf stets neue Weise eine
verborgene algorithmische Struktur aus, die hinter zufällig
erscheinender Zeichenhaftigkeit verschwindet. Die Zeichen der
Mohrschen Bilder (mit Namen wie P197-H oder P370-P) stehen für
sich selbst, aber auch für anderes, für jene angedeuteten
vierdimensionalen Verhältnisse. Dieses andere ist weitgehend
unbekannt, ungesehen, unsichtbar. Mit Hilfe des Programmes macht
Mohr Aspekte jener mathematischen Realität sichtbar. Die
Zufälligkeit und Beliebigkeit jedes einzelnen seiner Zeichen
wird in der algorithmischen Einmaligkeit zusammengehalten.
Der Künstler als Programmierer findet ein widerständiges
Material. Dieses ist von vornherein semiotischer Art. Seine
Widerständigkeit liegt folglich im Geistigen. Berechnungen
gilt es zu organisieren, die zu Bildereignissen werden. Die
Bewunderung für den Künstler, die wir aus seinem Bild
heraus stets aufbringen wollen, findet ihren Anlaß in der
Distanz, die er zum eigenen Werk eingeht und aushält. Deutlich
ist die künstliche Kunst, die sich des Computers bedient, eine
postmoderne Kunst, also eine Kunst, die zwar zu den Materialien
gelangt, aber nicht von ihnen selbst, sondern von ihren
semiotischen Spuren ausgeht...