Manfred Mohr ist ein Purist unter den Computerkünstlern


von Manfred Dworschak


Er schreibt seine Programme selbst und kann den "psychologischen" Zufall nicht ausstehen

Künstler, die mit Computern arbeiten, kommen schwerlich zu Ruhm. Bewundert werden eher die Programme. Das ist nur gerecht. Kein Mensch brächte es über sich, einen Abendhimmel als tadellosen Farbverlauf mit 68 400 Tonschritten zu gestalten. Der Computer macht das auf Knopfdruck. Danach ummantelt er noch rasch das Gittermodell eines Baumstamms mit schrundiger Rinde, malt ein fraktales Gebirge in den Hintergrund, und fertig ist die Laube.

Seit solche Wunder geschehen, gibt es auch Künstler, die sie für langweilig halten. Sie verwenden durchaus Computer, aber sie verschmähen alle Malsoftware, es sei denn, sie haben sie selber geschrieben. Das geringste Würfelskelett, das sie ihren Maschinen aus eigener Kraft entringen, ist ihnen lieber als alle fremde Pracht.

Einer von ihnen lebt in New York, hat schon Tausende von Würfeln mittels selbstgemachter Programme hervorgebracht, und sie werden immer noch anmutiger und unbegreiflicher. Sein Name ist Manfred Mohr, geboren ist er 1938 in Pforzheim, und der Würfel ist seit Jahrzehnten das Zentralgestirn seines Schaffens. Den Werken sieht man das zum Glück nicht an: Da gibt es vielfach geknickte Geradenläufe, Bündel von Kanten, Reliefs aus verschachtelten Winkelfiguren, alles meist in großen Serien. Aber alle gehen sie aus der Würfelgestalt hervor.

Vor einigen Jahren tat Mohr den Schritt zum Hyperwürfel, sozusagen dem Würfel überhaupt. Das ist ein Gebilde aus den höheren Sphären der Geometrie; es hat statt unserer drei mindestens vier Dimensionen. Laien dürfen sich darunter einen Würfel vorstellen, dessen Seiten keine Flächen sind, sondern selber Würfel.

Der Hyperwürfel bietet vollends unzählige Möglichkeiten, Kantenzüge und Diagonalwege zu erforschen. Allein 23 040 solche Wege hat beispielsweise der sechsdimensionale Hyperwürfel. Bei der Produktion wendet Mohr alle Regeln der Kombinatorik an. Die Figuren, die dabei herauskommen, werden gedreht, zerschnitten, ummontiert und gegeneinander verschoben. Seltsam, daß die Resultate so anrührend und elegant sind. Nur Ecken und Kanten! Wie ist das möglich? "Ich lasse den Computer genau das machen, was er kann", sagt Mohr.

In jedem Programm bleiben ein paar Parameter offen, etwa die Kantenzahl oder die Strichlänge. Der Rechner speist sie der Reihe nach mit Zufallszahlen. Heraus kommen fortschreitende Serien, deren größter Teil gleich wieder weggeworfen wird. Aber die besten Werke haben etwas, das auch den Künstler erstaunt. Nur sie werden Materie. Acryl auf Leinwand, Tusche auf Papier, Stahl auf Holz, je nachdem.

Der Zufall, Mohr nennt ihn seine Peitsche, bringt die Sache voran ins Unvermutete. Der wirkliche Zufall, wohlgemerkt, der mathematisch reine. Nicht der Furor der Freiheit, dem sich der impulsivere Kollege vielleicht vor der Leinwand überläßt. Diesen Zufall nennt Mohr den "psychologischen", und er kann ihn nicht ausstehen.

Gerade wenn der Maler denkt, daß er enthemmt auf der Leinwand herumfuhrwerke, folgt er am stärksten dem unwillkürlichen Reglement seiner Vorlieben und Abneigungen. Davon ist Mohr überzeugt: "Ich hasse Psychologie." Seit jeher fand er die Vorstellung unerträglich, es könne da etwas ausgespart und unentdeckt bleiben, und sei es "ein Winkel von dreißig Grad, wenn der logisch grad ungemein wichtig wäre". Der Computer rechnet ihm die Werke aus, "an die ich sonst nicht herankann, weil meine Psyche mir im Wege steht".

So werden nun also auch die Winkel und Geradenverläufe erschlossen, gegen die der Mensch bislang verstockt war. Als Auslöser ästhetischen Empfindens sind sie noch etwas ungewohnt. Wer aber Mohr folgt, hat auch im kalten Reich der Geometrie unverhoffte Begegnungen. Man trifft auf beklemmende Diagonalenläufe, auf herzzerreißende Knickstellen und hochmütige Krümmungen. Es gibt ein Leben in Linealien.

Das fliegt dem Künstler nicht einfach zu. Wenn der Computer anfängt, ist fast alle Arbeit schon getan: Jede Aufgabe gilt es in Einzelschritte aufzuteilen. Regeln müssen festgelegt und in ein Programm übertragen werden. "Manchmal wird das wahnsinnig kompliziert. Aber ich zieh's immer durch bis zum Ende", sagt Mohr. "Ich muß sehen, was herauskommt."

Ein Programm nach dem anderen kam so zustande, lauter kleine Geistmaschinen. Zusammen ergeben sie bereits eine ernstzunehmende Fabrikationsanlage: Auf tausend Programme schätzt er seinen Bestand, "davon vielleicht 300 brauchbar und 50 wirklich gut".

Mohr beherrscht alle Details seiner Produktion. Das kann von den anderen Computerkünstlern kaum einer sagen. Die meisten haben Programmierer, die nach ihren Plänen arbeiten, oder wenigstens eine Fertigsoftware, in der wiederum die Vorarbeit von tausend Programmierern steckt.

Fertigsoftware beschleunigt die Routine. Alles Langweilige geht nun wie der Blitz. Viele Bilder sehen auch danach aus: Jeder kann in zehn Minuten ein Werk schaffen; darin stecken fünfzig Mannjahre vorgeschossener Programmierarbeit und fünf Minuten Überlegung. Ein etwas beängstigendes Verhältnis, und die Programme werden immer noch mächtiger. Auch in der Kunst fällt tendenziell die Profitrate.

Von einer "Jahrmarktsphase" spricht der Bremer Informatiker Frieder Nake, ein Computergraphiker der ersten Stunde. Das Neue will ausprobiert und hergezeigt sein. Je flotter aber die Routine mit dem Computer von der Hand geht, desto machtvoller wächst bei manchem Künstler die Sehnsucht nach einem widerstrebenden Gegenstand, der überwältigt werden muß.

Der Stuttgarter Wolfgang Kiwus zum Beispiel verschmäht sogar die geringfügigen Annehmlichkeiten, die eine höhere Programmiersprache bietet. Er metzt seine Zeichenprogramme mit Vorliebe maschinennah in der grausamen Symbolsprache Assembler.

Im österreichischen Oslip lebt der Tapferste der Spartaner: Klaus Basset hat eine Möglichkeit gefunden, Computerkunst zu machen und selbst auf den Computer noch zu verzichten. Er denkt sich Programme aus, die er dann selber im Kopf durchrechnet. Das Ergebnis tippt er mit Schreibmaschine auf Papier, womit sich auch die Anschaffung eines Druckers erübrigt.

Mohr macht es sich ebenfalls nicht leicht, aber von selbstauferlegter Beschwernis hält er wenig: "Eine Arbeit ist entweder gut oder schlecht", sagt er. "Gegen Schwitzen habe ich schon immer eine Abneigung gehabt."

Das Lebenswerk seines amerikanischen Kollegen Harold Cohen (siehe ZEIT Nr. 23/1995) kann ihm auch nicht imponieren. Cohen versucht seit 1973, einem Computerprogramm namens Aaron das Malen beizubringen, indem er ihm der Reihe nach alles einlöffelt, was er von Raum, Figur und Farbe weiß, angefangen bei den einfachsten Regeln der Formgebung. So entstehen mittlerweile beachtliche Portraits, aber Mohr hält nichts davon. Aaron demonstriere nur, sagt er, was Menschen schon lange könnten, nämlich mittelmäßig malen.

Deshalb denkt Mohr auch nicht im Traum daran, seinem Computer die Urheberschaft zu übertragen. Früher hat er einmal in einer Laune alle seine Programme zusammengeschaltet und einfach machen lassen. "Da kam ein Riesenkrampf raus. Das Bild verkaufte sich sofort, aber für mich ist es noch heute eine Blamage."

Der 58jährige ist nun seit fast 30 Jahren am Werk. 1968 in Paris fing es an. Da sah er, wie im Meteorologischen Institut ein schrankfüllender Computer mit einer Zeichenmaschine, einem Plotter, Wetterkarten zu Papier brachte. Schon war es um den jungen Mohr geschehen. Unter Vorspiegelung nicht ganz richtiger Tatsachen erlangte er Zugang zum Institut, man gewöhnte sich an ihn, und fortan durfte der Plotter, wenn er fertig war mit seinen Isobaren, merkwürdige Würfel zeichnen. So ging es dahin über dreizehn Jahre.

Schon 1971 zeigte das Musée d'Art Moderne in Paris eine Reihe dieser Arbeiten; es war die weltweit erste Einzelausstellung von Computerkunst in einem Museum. Weitere Ausstellungen in aller Welt folgten. Und allerhand Auszeichnungen, darunter 1990 die Goldene Nica beim Prix Ars Electronica in Linz.

Seit Mitte der Siebziger beschäftigt ihn nur noch der Würfel. Ausgerechnet der Würfel, der Inbegriff der Ausdruckslosigkeit. Dem Künstler kam er gerade recht. "Das war ein großer Schritt für mich. Ich mußte ein System haben, wo im ersten Grad alles richtig ist, ein System, auf dem ich spielen kann wie auf einem Klavier", sagt Mohr, der als Jazzmusiker herumreiste, ehe er sich die Kunst vornahm.

1994 erschien im Waser-Verlag, Zürich, ein sehr schönes Buch über sein Werk. Man kann darin sehen, wie weit er sich mit seiner Präzision bereits von der landläufigen Malerei entfernt hat. "Mit der Kunstgeschichte habe ich nichts zu tun", sagt er. Selbst von den Künstlern, die ebenfalls den Computer verwenden, teilen nicht viele seine Überzeugung vom Sinn dieses Werkzeugs. Wenn es für den Computer eine Verwendung geben soll in der Kunst, sagt Mohr, dann hat sie nichts mit seiner Fähigkeit zu tun, einen Pinsel zu imitieren.

Die Welt liebt es, daß der Computer das Leben leichter macht, indem er alles imitiert, sogar Kunstrichtungen: Sonntagsmaler freuen sich, wenn sie in der Software Photoshop einen Schalter finden, auf dem "Pointillismus" steht. So verwandeln sie das nächstbeste Urlaubsphoto in ein ehrfurchtgebietendes Werk, zumal wenn sie hinterher noch auf "Pop art" klicken.

Der Computer übernimmt jede Rolle mit digitaler Gleichgültigkeit: Pinsel, Musikinstrument, Schreibmaschine, Faxgerät. So dient er zweifellos der Bequemlichkeit der Anwender. Aber Bequemlichkeit ist kein Kriterium der Kunst. Die Frage ist: Was kann der Computer auf einzigartige Weise? Was ginge ohne ihn nicht langsamer, sondern gar nicht?

Mohr muß nicht lange überlegen: "Genauigkeit wird zum Gestaltungsmittel".

Der Meister, der alles Akkurate liebt, ist dafür schon der Rechte. Fragt man ihn nach der Uhrzeit, so sagt er "13 Uhr 48" und fügt hinzu: "Sie würden vielleicht sagen, es ist kurz vor zwei."

Sein Werk ist denn auch beherrscht von einer fast klösterlichen Strenge, die inmitten des üblichen Rummels darauf beharrt, was der Computer ist: eine Maschine, die nur präzise Zeichen annimmt und Zeichen auswirft, auch wenn sie so die Materialität einer Baumrinde simuliert.

An Mohrs Serien kann man studieren, welche Wirkung die fortwährende Variation winzigster Parameter hat. Nichts spricht dagegen, womöglich Tausende solcher Varianten hintereinanderzuschalten; der Computer ist wie geschaffen für bewegte Werke. An Mohr soll es nicht liegen. Er würde gerne Bilder machen, die sich ganz langsam verändern. Nur sind die großen Flüssigkristallplatten, die er dafür bräuchte, noch zu teuer.

Seit 1962 arbeitet Mohr ausschließlich in Schwarzweiß, sozusagen binär. Höchstens, daß er sich mal die Lustbarkeit eines mittleren Grautons gestattet. Alles zugunsten der Konzentration, des Entschlusses, nichts zu sagen, wenn es nicht genau zu sagen ist. "Herkömmliche Kunst muß es nicht genau nehmen. Bei mir muß es aber stimmen. Bei mir verläßt man sich auch darauf, daß es stimmt. Irgend etwas hält das alles zusammen, das spürt jeder. Mancher kriegt wohl auch Angst vor dem Ausmaß an Kontrolliertheit."

Früher fiel ihn manchmal selber eine gewisse Schwäche an, vielleicht ein Sehnen nach Heimeligkeit. Dann kam es vor, daß er einer Matrix aus seriellen Zeichen die Anmutung eines elektronischen Schaltplans gab, weil all die Symbole für Relais und Transistoren schon längst etwas Trauliches an sich haben.

Heute macht er seine rationale Kunst ungestört von allen Vorbehalten, auch denjenigen der Zeitgenossen, die in seiner Arbeit keine Kunst erkennen mögen. Ärgern kann man ihn nur, indem man ihn einen Computerkünstler nennt. Die Maschine sei ihm Mittel zum Zweck und sonst gar nichts. "Einmal hatte ich eine Ausstellung in Paris, darunter eine unglaublich filigrane Arbeit. Da kam einer und sagte: ,Gott, was hat der sich für eine Arbeit gemacht, warum hat er da nicht den Computer genommen?' So soll es sein."




(C) Manfred Dworschak, DIE ZEIT Ausgabe Nr.42 vom 11. Oktober 1996