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Manfred Mohr - Forschungen im ästhetischen Universum des Kubus


Lida von Mengden



Manfred Mohr situiert seine Werke an der Schnittstelle zwischen mathematischer Logik und Ästhetik. Losgelöst von jeder Materialität, entwickeln sie die utopische Dimension einer errechneten Welt zwischen Aufbau und Auflösung, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion. Zeigen seine Bilder hermetische Welten, nur ihren eigenen Gesetzen verpflichtet? Oder sind seine computergenerierten Etuden über das grosse, quasi allumfassende Thema des Kubus etwa der Versuch der Ästhetisierung der Utopie einer "reinen" Welt der Formen, gegründet auf die "reinste" aller Wissenschaften, die Mathematik?

Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Künstlers stand Ende der sechziger Jahre die Idee einer neuen Kunst für das technologische Zeitalter, und der Gedanke einer nicht emotional, sondern rational gesteuerten Kunst. Beeinflusst durch Max Benses informationsästhetische Schriften, die den ästhetischen Gehalt eines Kunstwerks anhand "ästhetischer Zeichen" zu formalisieren suchten, und somit einen rationalen Zugang zum Verstehen und Herstellen von Kunst eröffnen wollten (1), stellte Mohr seine durch Sonderborgh beeinflussten tachistischen Notationen radikal in Frage. Aktionsmalerei erschien ihm von da an zu subjektivistisch geprägt, und er suchte nach Möglichkeiten einer Objektivierung. In einer Zwischenphase, die er Subjektive Geometrie (2) nannte, entwickelte er die bereits im Informel angelegte Zeichenhaftigkeit weiter und erfand sogenannte 'Phantasiepictogramme' (Mohr). Entwickelt aus einer Mischung aus alltäglichen Symbolen, elektronischen Zeichen und mathematischen Formeln, setzte der Künstler diese popartig wirkenden Pictogramme, vereinfacht und monumentalisiert, in strengem Schwarz-Weiss auf die Bildfläche. Von da an zeigten sich zunehmend Formalisierungstendenzen in seinem Werk. So stellte er zum Beispiel ein Kompendium seiner bis dahin entwickelten Zeichen zusammen, das 1969 er als "Artificiata" veröffentlichte. Den Durchbruch brachte 1968 die Bekanntschaft mit dem Musiker Pierre Barbaud, der erste Musikstücke mit dem Computer komponiert. Mohr erkennt sofort das Potential dieser Maschine für sein Anliegen einer 'generativen Kunst' (3). Als sich ihm durch Zufall kurz danach die Möglichkeit bot, im Pariser Institut Météreologique mit einem - zimmergrossen - Rechner und einem Plotter zu arbeiten, begann er sofort zu experimentieren. Er schrieb seine Programme selbst, prüfte die Algorithmen anhand der ausgedruckten Ergebnisse, und veränderte sie, bis sie exakt seine visuelle Vorstellung eines Werks repräsentierten. Er nannte das eine Eins-zu-eins-Kommunikation mit dem Computer (4), und so wurde ihm die Maschine zu jenem Instrument, das er zu spielen lernt, wie das Saxophon als Jugendlicher.
Obwohl sich Manfred Mohr nach einer Karriere als Jazzmusiker schliesslich doch für die bildende Kunst entschied, ist die Musik von dieser Zeit an eine Konstante in seinem Leben geblieben. Das verdeutlichen immer wieder kurze Hinweise in seinen Texten und im Gespräch, wie die Bemerkung, "alle meine Werke sind von der Musik inspiriert" (5), in denen er seine Arbeit mit dem Computer und die so generierten Werke mit musikalischen Phänomenen in Verbindung bringt. Doch erst in der neuesten Werkgruppe, den subsets, bezieht er sich explizit auf seine musikalischen 'Wurzeln' im Free Jazz, und vergleicht das "scheinbar chaotische visuelle Zusammenspiel von Formen" mit einer "auf festgelegten Strukturen sich vorgeblich völlig frei entwickelnde(n) jazzige(n) Gegensätzlichkeit" (6), als hätte er mit dieser Animation seine Virtuosität unter Beweis gestellt und könnte nun wieder frei improvisieren, nun mit dem Instrument Computer.

Verfolgt man die sich zu immer neuen Konstellationen formierenden Computeranimationen subsets oder space.color.motion (Abb.3), wird man hineingezogen in einen Prozess ununterbrochener Neuformationen lineargeometrischer Strukturen, deren unregelmässige Linienraster wie auch die eingespannten farbigen Flächen unentwegt ihre Form verändern, in einem kontinuierlichen Verlauf, einem eigenen Rhythmus folgend, als ob sie einem geheimen, nicht zu entschlüsselnden Code, unterliegen. Man taucht ein in seltsam undefinierbare Tiefen, einer hochkomplexen Perspektive gehorchend, die im Prozess des "Perspektivwechsels" wieder ins Zweidimensionale kippen. Eine Art technoides Kaleidoskop produziert aussergewöhnliche Konstellationen, die völlig neuartig erscheinen, als ob bisher Ungesehenes sichtbar gemacht würde. Obwohl der Betrachter einen Strukturzusammenhang nicht entziffern kann, vermittelt sich ihm dennoch der Charakter eines sich mit innerer Notwendigkeit entfaltenden Systems. Fragen nach 'schön' oder 'hässlich' erscheinen obsolet, der gesamte Prozess wird zum Kunstwerk.

subsets oder space.color.motion stellen die perspektivische Sicht auf die 6-dimensionalen, bzw. 11-dimensionalen Räume eines sich drehenden Hyperwürfels dar, und bezeichnen den (vorläufigen) Endpunkt einer langen Reihe von digitalen Arbeiten des Künstlers. Sie sind das überzeugende Ergebnis einer nun fast 40 Jahre währenden intensiven Auseinandersetzung mit dem zeichengenerierenden Repertoire von Linie und Würfel. Manfred Mohr hat die hierbei durch den Computer gegebenen Möglichkeiten mit ausserordentlicher Konsequenz bis heute ausgelotet, hat sich jedoch nie zu allein der Technik geschuldeten Spielereien hinreissen lassen. Er hat seinen Blick von Anfang an für die besonderen Qualitäten, aber auch Fallstricke geschärft, die der Einsatz der Maschine mit sich bringt. Im Zentrum seines Denkens stand grundsätzlich die künstlerische Qualität der Ergebnisse.

Bereits in der Phase eines "Rationalisierens der Phantasie" (7) in den Subjektiven Geometrien, finden sich jene Parameter, die für die späteren generativen Werke zentral wurden: die Vorherrschaft des Linearen, die Betonung der einzelnen Zeichen, ebenso der Leerräume, die sowohl Fläche als auch Raum konnotieren, die Anordnung in Zeilenstrukturen, sowie seit 1962 die ausschliessliche Verwendung von Schwarz und Weiss, ein 'rigoroses System von Binärentscheidungen' (Mohr), das zur Grundlage für die Kommunikation mit Computer und Plotter wurde.

Die Arbeit mit dem Computer
Der enge Bezug zur Mathematik und den Naturwissenschaften, der die Arbeit mit dem Computer auszeichnet, und die Herstellung von Kunst auf eine objektive Basis stellte, faszinierte den Künstler von Anfang an. Dieses Medium bot wie kein anderes die Möglichkeit zu rationaler Kontrolle des künstlerischen Prozesses. Logik, Nachprüfbarkeit der Ausgangsparameter und der Ergebnisse, Präzision, Fehlerfreiheit und Objektivität, das waren Mohrs Kriterien, und der Computer erfüllte sie alle. Der Rechenprozess lief über mathematische Parameter ab, weder durch Subjektivität noch Emotionalität gestört. So bot der Computer die ideale Voraussetzung dafür, die 'Limitationen der persönlichen Charakteristika des Künstlers zu überwinden' und das 'emotionale clowding' (Mohr) auszuschalten. Ausserdem liefen die Rechenoperationen - auch bei komplizierten Prozessen oder grossen Datenmengen - mit ungeheurer Geschwindigkeit ab, so dass sich viele Konfigurationen sehr schnell durchspielen und auf ihr ästhetisches Potential überprüfen liessen.

Unabdingbare Voraussetzung für die generativen Arbeiten des Künstlers ist die Entwicklung der Algorithmen durch ihn selbst. Nur so kann er das enorme Potential der Maschine als eine Erweiterung der menschlichen Intelligenz nutzen, als 'visuelles Hochgeschwindigkeitsdenken' und als 'Verstärkung unserer intellektuellen und visuellen Erfahrungen' (Mohr). Manfred Mohr wurde früh bewusst, wie sehr ihn die Arbeit mit dem Computer beeinflusste, weil sie ihn zu einer 'maniakartigen Präzision' zwang, die zu einem klareren Bild seiner eigenen Denkweise und Absichten führte und somit seine Kreativität förderte:"Da es möglich ist, sich die Logik einer Konstruktion vorzustellen, aber nicht alle ihre Konsequenzen, erscheint es unbedingt notwendig, sich auf einen Computer zu verlassen, um die grosse Menge an Möglichkeiten zu zeigen; ein Prozess, der möglicherweise zu anderen und vielleicht interessanteren Antworten führt, die dem normalen Verhalten nicht zugänglich sind, aber der zugrundeliegenden Logik." (8) Der wissenschaftlichen Orientierung in der Anfangszeit der Computerkunst folgend, veröffentlichte der Künstler nicht nur die Ergebnisse seiner "Versuchsanordnungen", sondern auch die mathematischen Formeln der Programmierung in den einschlägigen Publikationen (etwa in "Computers and Automatations"). Bis heute erläutert er in den Katalogen die Vorgehensweise, um die Nachprüfbarkeit seiner Verfahren, als Prinzip des Verstehens, zu gewährleisten (9).

Wie alle Computerpioniere der Frühzeit - so etwa Vera Molnar (10), Frieder Nake, Georg Nees, oder Michael A. Noll - benutzte Manfred Mohr bereits in den ersten Programmen Zufallszahlen, die bei bestimmten Entscheidungen in den Ablauf des Programms eingriffen (11). Zufallsprozesse oder stochastische Verfahren führen zur Unvorhersehbarkeit der Ergebnisse; auf diese Weise wurde es den Künstlern möglich, den deterministischen Ablauf des Algorithmus aufzubrechen. Mohr legt Wert darauf, dass seine Zufallsparameter als mathematischer Zufall nur da den algorithmischen Prozess stören, wo sie keine grundsätzlichen strukturellen Veränderungen verursachen können, d.h. zum Beispiel keinen unkontrollierten "Zerfall". Anders als beim individuellen Zufall kann nicht die Grundstruktur aufgelöst, sondern es können beispielsweise nur Richtungsänderungen der Linien oder Auswahlentscheidungen, etwa bei der Wegnahme der Kanten des Würfels, bestimmt werden. Trotz dieser Einschränkungen spielt der Zufall die Rolle des eigentlichen Innovators, er treibt das Programm wie eine "Peitsche" (Mohr) an, und verursacht unvorhersehbare numerische Selektionen, der Vorstellung des Menschen unzugänglich, die wiederum der Intuition neue Impulse vermitteln. Bense hat deshalb den Zufall als Garanten der "Singularität des maschinell erzeugten ästhetischen Objekts" bezeichnet (12). Denn trotz der ausserordentlichen Fülle an Konstellationen entstehen durch die Zufallsprozessoren keine simplen Wiederholungen, sondern Familien von Objekten, die sowohl identische als auch verschiedene Eigenschaften aufweisen. Manfred Mohr akzeptiert grundsätzlich alle nach dem 'Endprogramm' gezeichneten Arbeiten als gleichwertig, 'als legitime Ergebnisse' (13). Bis heute veröffentlicht er seine Werkkomplexe in der Regel als Serien anhand einer Auswahl einzelner Varianten. Sie erscheinen nobilitiert, auf Leinwand übertragen, und bestätigen den traditionellen Status des Originals. Mohrs Auswahlkriterien zeigen deutlich die Präferenz für technoid anmutende, unwahrscheinliche, unsere ästhetischen Gewohnheiten in Frage stellende Formationen.

Vom "être graphique" zum 11-dimensionalen Würfel
Manfred Mohr berief sich in Anlehnung an Max Benses Informationsästhetik auf die Semiotik als den 'Kernpunkt seines Denkens' (14). Darin ist der Grund für seine Bemühungen um eine zeichentheoretische Basis seiner künstlerischen Parameter zu sehen. Er entwickelte deshalb Zeichen zu 'Trägern ästhetischer Information'. Mohr ist einer der wenigen Künstler, der auch nach dem Bedeutungsverlust der Semiotik innerhalb des Wissenschaftsbetriebs die zeichentheoretische Begründung seiner Kunst nie verworfen hat. Vielmehr hat er sich durch seine Interpretation des ästhetischen Zeichens als Etre graphique ein stabiles Fundament geschaffen, das für alle Erweiterungen seines Zeichenrepertoires gültig blieb. Etres graphiques sind algorithmisch generierte Zeichen, in Mohrs Anfangsphase exakt gezeichnete Liniengeometrien, deren formale Eigenständigkeit den Charakter eines 'ikonischen, sich selbst reflektierenden Zeichens' (15) garantiert. Als abstrakte Formen, die sich visuell vom logischen Inhalt (ihrer Herkunft) lösen können (16), werden sie zu Trägern ästhetischer Information im Kontext des Werks und der Beziehung zum Betrachter.
Charakteristisch für die frühen algorithmischen Arbeiten ist das Lineare, das zugleich die Zeilenstruktur instrumentiert, beides Eigenheiten, die die typischen Rechenmöglichkeiten der damaligen Computertechnologie widerspiegeln. Einzelne Elemente stehen wie isoliert auf der weissen Fläche, zum Teil selbst da, wo sie in einen Schriftduktus einbezogen sind Neben diesem Primat einer sog. 'linearen Ikonozität' - die sich nahtlos bis zu den späteren Verselbständigungen des Etre graphique in Divisibility, Half-Planes und Laserglyphs fortsetzt - fällt eine weitere grundsätzliche Besonderheit ins Auge: der neutrale Grund erscheint als Leere, die Idee eines Nicht-Raums evozierend, und verweist den Betrachter auf die Künstlichkeit des Mediums. In der frühen Arbeit "UHF"81, die 64 solcher Etres graphiques, jeweils in einen Kreis eingeschlossen, zeigt, fällt dieses Fehlen eines Raums - es gibt weder ein Davor noch ein Dahinter - besonders auf; und wird durch die Isolierung der technoiden Zeichen in der abgeschlossenen Form des Kreises noch verstärkt.

Seit 1973 setzt Manfred Mohr den Würfel als Urstruktur und Repertoire zur Zeichenentwicklung ein. Auf dieser Basis vermag er die Etres graphiques als bildkonstituierende Elemente zu systematisieren. Er schafft sich somit eine Metastruktur oder Syntax, die es ihm erlaubt, aus einem vorab gegebenen Zeichenvorrat - den Kanten des Würfels, bzw. seiner Projektionsfigur - eine Auswahl nach bestimmten Regeln zu treffen. Mohr hat diese Grundstruktur mit der Tonalität in der Musik verglichen; Fehler in der Komposition können auf dieser Basis sofort erkannt werden, ähnlich wie beim Klavierspiel, ungeachtet der Komplexität der Struktur. Die Gründe des Künstlers für die Auswahl genau dieser Figur für sein Zeichenrepertoire liegen im Axiomatischen: ihrer immanenten Symmetrie, ihrer formalen und strukturellen Stabilität, ihrer - wahrnehmungstheoretisch gesprochen - prägnanten Gestalt, die Manipulationen lange Stand hält. Mohr setzt mit dem Kubus jenen der fünf platonischen Körper ein, der die Erde repräsentiert. Genau diesen Körper, der das Feste, Unveränderliche symbolisiert, unterwirft der Künstler unterschiedlichsten Zerlegungsstrategien, Dekonstruktionen bzw. Konstruktionen, deren Komplexität kontinuierlich erhöht wird, und schliesslich zum Hypercube und in die Mehrdimensionalität führt.
Auf der Basis von Projektion und Rotation des Kubus entwickelt Mohr graphische Strukturen nach mathematischen Logiken, mit kombinatorischen, statistischen, additiven oder restriktiven Verfahren, mit Wachstumsprogrammen, etc. (17) Ganz gleich, ob in Cubic Limit I die Auflösung der Illusion der perspektivischen Darstellung des Kubus vor Augen geführt wird (18), ob in den Wachstumsprogrammen eine Art graphisches 'Rückgrat' den Würfelsegmenten eingezeichnet wird, oder ob in den Four-Cuts die Symmetrie durch das Achsenkreuz und Rotationen aufgebrochen wird, immer ist das Lineare dominant, wird zum Impulsgeber. Ab 1976 werden die Würfeloperationen komplizierter, der Künstler erhöht die Komplexität der Struktur durch die mathematisch-geometrische Einführung einer vierten Dimension. Um die Visualisierung einer derart komplexen Struktur logisch und ästhetisch überschaubar zu halten, erfindet der Künstler Projektionsverfahren, vermittels der er etwa in der Serie Dimensions die zufallsbestimmten Diagonalwege durch den Hypercube vorstellen kann. Trotz der ungeheuren Zunahme an Komplexität im Laufe der Entwicklung des Mohrschen Oeuvres, trotz geometrischer Raumprojektionen in mehrdimensionalen Raumtiefen, etwa der Darstellung von Diagonalwegen im 6 - oder 11-dimensionalen Raum, gelingt es dem Künstler durch die Einführung der Farbe (ab 1999) die ausserordentliche Komplexität jener Strukturen optisch nachvollziehbar zu halten (19)
Drei Aspekte sind hierbei formalästhetisch entscheidend: Die Zunahme an struktureller Verdichtung korrespondiert keineswegs einer Zunahme an Räumlichkeit. Es überrascht, wie stark die Konfigurationen in die Fläche gebunden scheinen. Erst da, wo die Farbe als flächen differenzierendes Moment eingeschaltet wird, entwickelt sich überzeugende Raumhaltigkeit und sogar eine gewisse Plastizität der Elemente, die sich vorher jeglicher Haptik widersetzten. Es mag zutreffend sein, hier auf die 'einebnende Funktion des Kathodenstrahlbildschirms' zu verweisen (20). Doch ursächlich ist der Nicht-Raum der Werke der graphischen Projektion des Kubus, jener strikt linearen Gitterstruktur, zuzuschreiben. Als quasi dematerialisiertes Zeichen, eher mathematisch-geometrische Denkfigur denn realer Würfel, überträgt sie genau diese Abstraktheit auch auf die mit ihr generierten Elemente und ihr Umfeld. Als Manfred Mohr in den siebziger Jahren die Rotation einführte, beeinflusste er vermittels der Bewegung auch den Raum. Die linearen Zeichen beginnen nun wie schwerelos in einem offenen Raum zu schweben, ein seltsam ortloser Raum, dessen Ambiguität dem Betrachter die eindeutige Entschlüsselung als Fläche oder Raum erschwert und nur selten perspektivische Ausblicke oder Umklappeffekte von flächiger zu räumlicher Anmutung erlaubt.

Der Kubus, bzw. das Quadrat, ist nicht nur für Mohr, sondern auch für die konstruktiv-konkrete Kunst bzw. den Minimalismus, zur paradigmatischen Figur geworden. Sie steht stellvertretend für die Suche nach der Idee, dem Wesen oder dem Essentiellen des Kunstwerks in der Kunst des 20. Jahrhunderts, die in einen Komprimierungsvorgang mündete. Durch die Verwendung von Kubus und Quadrat, den Stereotypen der Moderne, stellt sich Mohr bewusst in diese Tradition und übernimmt damit auch die hier eingeschriebenen Bedeutungen, wie den Glauben eines szientistischen Zeitalters an die über Geometrie vermittelte Eindeutigkeit des Kunstwerks, an seine Nachvollziehbarkeit, muss sich aber auch mit ihrem Grundwiderspruch auseinandersetzen: "Einerseits tritt sie (die Geometrie, d. Vf.) als Mimesis an Technik auf, an Entwerfbarkeit von Welt, andererseits wird sie Hort platonisierender Reauratisierung." (21)

Mohrs Kunst wird häufig dem Konstruktivismus oder dem Minimalismus zugerechnet. Er selbst hat dieser Einordnung Vorschub geleistet. Mit der Hinwendung zu jenem essentialistischen Vokabular, dem Kubus, hat sich Mohr durchaus bewusst in die Nähe dieser Richtungen begeben, und hat das Missverständnis, seine Kunst sei konstruktivistisch, zugelassen, u.a. auch um sie vor der Abwertung als 'Computerkunst' zu schützen (22). Doch gerade diese formale Nähe täuscht etwas vor, das es nicht ist, oder zumindest nur teilweise ist. Denn Manfred Mohrs Stil, die Unverwechselbarkeit und das Innovative seiner Kunst, sind unabdingbares Produkt des Mediums, des Computers. Wie innovativ seine Kunst daher wirkte, zeigen gewisse strukturelle Ähnlichkeiten in den Arbeiten anderer Künstler, die auf Anregungen Mohrs hinweisen. Auch heute noch kann Mohrs Ansatz als wegweisend bezeichnet werden, wie ein Vergleich mit experimentellen Computerarbeiten zeigt (23).
Mohrs generative Kunst kann, pointiert ausgedrückt, als ein zu Ende gedachter Konstruktivismus betrachtet werden. Sie setzt die gleichen Parameter ein, wie konstruktive Verfahren, Rationalität, Verzicht auf eine persönliche Handschrift (weder Subjektivität noch Pinselstrich), Orientierung an industriellen Fertigungsmethoden (Präzision), zieht daraus jedoch die radikale Konsequenz, den Fertigungsprozesses an eine Maschine zu delegieren, die mit grösserer Präzision als der Mensch arbeitet. Im Konstruktivismus wurde die an eine externe Instanz delegierte Herstellung des Kunstwerks mit einem Kontrollverlust des Künstlers und einer 'Entauratisierung' des Kunstwerks assoziiert. Doch genau diese neue Rolle des Künstlers als Ideengeber und nicht als Macher entsprach Vorstellungen der Konzeptkunst, die Idee, das künstlerische Konzept als das Wesentliche des Kunstwerks zu betrachten. (24). Korrespondenzen gibt es auch hinsichtlich des prozessualen Charakter des Kunstwerks. Für beide Kunstrichtungen sind unterschiedliche Zustände des Kunstwerks hinsichtlich der Abweichungen in der Realisierung jedes einzelnen Werks Teil des Konzepts. Wesentliche Gemeinsamkeit ist die daraus resultierende Abwertung des einzelnen Kunstwerks, des Originals, das als Ausschnitt aus einem Prozess betrachtet wird.
Als Manfred Mohr vor Jahren nach den Vorteilen des rechnergestützten Arbeitens gefragt wurde, antwortete er ohne zu zögern: "Genauigkeit" (25). Heute stellen wir, angesichts umfassender gesellschaftlicher Veränderungen durch den Einsatz von Computern in allen Lebens- und Arbeitsbereichen, die in fast allem zu einem Mehr führen, einen Paradigmenwechsel fest, der das in der Kunst des 20. Jahrhunderts gültige Paradigma des Originals durch das der Komplexität ersetzt, angesichts grundlegender Umwertungsprozesse, die nicht mehr reduktionistisch auf das Essentielle abzielen, sondern aufgrund einer zunehmend unüberschaubarer erscheinenden Welt die Komplexität sich unaufhörlich wandelnder Gegebenheiten in den Mittelpunkt stellen. "Es zeigt sich zudem...dass das Konzept der einzigen 'richtigen' Form, wie es für die modernistische Kunst uneingeschränkte Gültigkeit besessen hatte, zunehmend von einer Ästhetik der Komplexität abgelöst wird." (26).

Vergegenwärtigt man sich die Vorgehensweise des Künstlers in all ihren Schritten, zeigt sich der grundsätzlich analytische Charakter seiner künstlerischen Operationen. Mohrs Interesse zielte von Anfang an auf eine strukturelle Untersuchung des formal inhärenten ästhetischen Potentials der zweidimensionalen Projektion des n-dimensionalen Kubus ab. Dass er hierbei einen ungeheuren Ideenreichtum entfaltet, und die unterschiedlichsten modi operandi entwirft, um das immanente formale Repertoire in seiner Gänze auszuschöpfen, verweist auf einen Forschungsgedanken, der u.a. neben der informationsästhetisch-wissenschaftlichen Orientierung auch dem Objektivierungsanspruch der Aufbruchszeit der sechziger Jahre geschuldet war. Dennoch hat er diese Grundlagenforschung in der Welt der geometrischen Strukturen unbeirrt vorangetrieben, und verfolgt anhand eines konsequent binären Vokabulars die Visualisierung theoretischer Systeme, die technischen Möglichkeiten konsequent ausschöpfend. Unbeeindruckt von der Ächtung der rechnergestützten Kunst, wie vom Gegenteil, dem extensiven Gebrauch von Computereffekten in der Kunst heute, die sich meist nicht mehr als solche ausweisen, sondern sich der Herstellung perfekterer Wirklichkeiten und sonstigen Realitätsvortäuschungen widmen, bleibt Mohr konzentriert auf einen einzigen paradigmatischen Forschungsgegenstand: Der Kubus wird ihm zum Exemplum für die Komplexität inhärenter geometrischer Universen, einem wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand vergleichbar, dessen Analyse von der Betrachtung seines makroästhetischen Zustands bis zur Untersuchung der mikroästhetischen Systematik reicht. "Meine Kunst ist formal minimalistisch, aber inhaltlich maximalistisch", hat der Künstler dieses Paradox einmal beschrieben (27).

Der wissenschaftliche Charakter von Mohrs genialen, ins Formalästhetische transformierten Rechen- und Zeichenoperationen hat auch mit dem genuinen Interesse des Künstlers an den neuesten Erkenntnissen etwa im Bereich der theoretischen Physik zu tun. Durch sie lässt er sich zu neuen Bildsystemen anregen, zum Beispiel zum Konzept der Mehrdimensionalität. In der theoretischen Physik wird die Einführung weiterer Dimensionen unserer dreidimensionalen Welt - bereits von Einsteins Relativitätstheorie nahegelegt - zunehmend diskutiert (28). Mohr hat ein mathematisch-geometrisches Modell für zusätzliche Dimensionen mit dem Hypercube geschaffen, angeregt von den Hypothesen eines Multiversums und der String-Theorie. Derart komplexe Räumlichkeiten können nur mittels Algorithmen berechnet und schliesslich visuell dargestellt werden, denn nur durch den unablässig ablaufenden Generierungsprozess entstehen Bildfolgen, deren Konfigurationen sich niemals wiederholen, eine das menschliche Mass übersteigende Bildwelt. Nicht von ungefähr eignen sich daher Mohrs Algorithmen, die eine Darstellbarkeit von 6-dimensionalen Räumen ermöglichen, dazu, um heute virulenten Vorstellungen mehrdimensionaler Welten in der Quantenphysik eine gewisse Bildhaftigkeit zu gewährleisten.

Man kann Manfred Mohr somit als Künstler-Forscher bezeichnen, zwar tätig in einem hermetischen Raum logisch-ästhetischer Operationen, dem grundsätzlich autonomen Charakter seiner Kunst verpflichtet. Und doch sind es gerade die Resonanzen seines Erstaunens über die Welt und die Mechanismen ihres Funktionierens, die seine Vorstellungswelt und sein künstlerisches Universum verändern. Von Kandinsky wird überliefert, er sei über die Möglichkeit, das Atom zu teilen, so erschüttert gewesen, dass ihm die Welt vor seinen Augen zerfiel. Für Manfred Mohr hingegen öffnet sich die Welt und faltet sich in ungesehene Dimensionen auf.

Während wir heute in unserer hoch technisierten Gesellschaft unentwegt auf künstliche Substrate stossen, die sich natürlich geben und die reale Wirklichkeit vortäuschen, gibt es bei Mohr keine Zweifel: seine Welten sind künstlich, und sie zeigen genau das.
Und sie lassen keine Fragen offen: denn für sie gilt genau das nicht, was E.A.Poe über die ideale Landschaft schrieb: "Die ursprüngliche Schönheit ist niemals so gross, wie jene, welche noch hinzugefügt werden kann." Bei Mohr kann nichts mehr hinzugefügt werden, die Ordnung ist so präzise wie unanfechtbar - trotz aller Konstruktionen und Dekonstruktionen, Minimalismen und Komplexitäten - und von daher: schön und hässlich wird irrelevant.



[1] Bense spricht von einer umfassenden Bewusstseinsprägung des Menschen durch die Technik (vgl. Max Bense, Aesthetica, Baden-Baden 1965, 126) und verlangt in der Folge die Einbeziehung der Rationalität auch bei der Beurteilung und der Produktion von Kunst, die Abkehr von Subjektivität und Emotionalität. Lauren Sedofsky stellt dazu fest: "Mohr fand eine philosophische Ästhetik, die die technologische Sphäre als unsere 'authentische Realität' bestätigt, die sich mit der theoretischen Physik, der Logik, Linguistik und Informationstheorie an der Schnittstelle dieser Disziplinen mit der Avantgarde auseinandersetzt... Benses 'Projekte' ('Projekte einer generativen Ästhetik', d. Vf.) signalisieren die Stunde der Mathematisierung des Kunstobjekts durch eine Manipulation von Zeichen nach den Richtlinien einer generativen Grammatik." (L. Sedofsky, Linienzüchter, in: Kat. Ausst. M.M., Algorithmische Arbeiten, Quadrat Bottrop, Josef Albers Museum, Bottrop 1998, 13/14
[2] Vgl. Ausstellungskatalog, Arbeiten 1966-1980, Reuchlinhaus Pforzheim, 1988, S. 35.
[3] Seit 1969 bezeichnet Mohr seine Werke als "generative Arbeiten". Bense äussert sich im Kapitel Projekte generativer Ästhetik wie folgt: " Unter generativer Ästhetik ist nun die Zusammenfassung aller Operationen, Regeln und Theoreme zu verstehen, durch deren Anwendung auf eine Menge materialer Elemente, die als Zeichen fungieren können, in diesen ästhetische Zustände (Verteilungen bzw. Gestaltungen) bewusst und methodisch erzeugbar sind... Es gibt gegenwärtig vier Möglichkeiten einer derartigen abstrakten Beschreibung ästhetischer Zustände ( Verteilungen bzw. Gestaltungen), die zur Herstellung ästhetischer Strukturen verwendet werden können: die semiotische, die klassifizierend vorgeht und die metrische, statistische und topologische, die numerisch und geometrisch orientiert sind." (vgl. Aesthetica, a.a.O., 333)
[4] M.M. im Gespräch mit der Autorin am 10.10.2006
[5] Z. B. bezeichnet sich Mohr 1971 im Gespräch mit André Berne-Joffroy als "musicien visuel, théorétique". (Vgl. Kat.Ausst. M.M. Computer Graphics. Une ésthétique programmé, Musée d' Art Moderne de la Ville de Paris, Paris 1971, 20)
[6] M.M. in: Kat. Ausst. M.M., subsets (2003 - 2005), galerie wack Kaiserslautern 2005, bitforms New York 2006, o. S.
[7] Vgl. Anm. 4
[8] Übersetzung des Vf.:"As it is possible to conceive the logic of a construction but not all its consequences it is nearly an imperative to rely on a computer to show this large variety of possibilities; a procedure, which may lead to different and perhaps more interesting answers, lying of course outside of normal behavior but not outside of the imposed logic." (M.M. zit.n. Kat.Ausst. M.M.,Computer Graphics, a.a.O., 38)
[9] Obwohl er auf diese Weise sein künstlerisches Konzept in der kodifizierten Form des Algorithmus allgemein zugänglich und verifizierbar machte, hat ihn sein aussergewöhnlicher künstlerischer Ansatz - und "seine" Zufallsprogramme - vor direkten Nachahmern geschützt. In den letzten Jahren hat Mohr sich auf allgemeine Beschreibungen seiner Vorgehensweise beschränkt, um Plagiate zu verhindern.
[10] M.M. gehört zu den wenigen künstlerisch ausgebildeten Computerpionieren, wie auch Vera Molnar, die ebenfalls Zufallsprogramme nutzte. Vgl. Barbara Nierhoff, Vera Molnar und der Computer, in: Kat.Ausst. Vera Molnar. monotonie, symétrie, surprise, Kunsthalle Bremen, Bremen 2006
[11] 1971 stellte Mohr in "Le petit Livre de Nombres au Hasard" den Ausstoss eines Zufallszahlengenerators in Kolonnensequenzen zusammen.
[12] Max Bense, a.a.O., 337
[13] M.M. in. Kat. Ausst. M.M., Divisibility. Generative Works 1980-1981, Galerie Gilles Gheerbrant, Montréal 1981, o.S.

[14] M.M., a.a.O.
[15] M.M., a.a.O. Die Semiotik, ursprünglich von Charles Saunders Peirce entwickelt, wurde von Max Bense in seiner ästhetischen Theorie als Grundlage der Analyse des Kunstwerks und seines "ästhetischen Zustands" verwendet. In der sog. triadischen Zeichenrelation zwischen Zeichen, Bezeichnetem und Interpretant fungieren Zeichen in der Beziehung zum Objekt als Icon, Index oder Symbol. Das Icon bildet entweder das Objekt ab oder hat wenigstens einige Züge mit ihm gemeinsam (vgl. Max Bense, a.a.O., 306)
[16] Vgl. M.M., in: Algorithmus und Kunst: Die präzisen Vergnügen, Hamburg 1993, 38
[17] Vgl. M.M., in: Kat. Ausst. M.M., Divisibility, a.a.O.
[18] Wie ungeheuer umfangreich die Menge der Kombinationsmöglichkeiten allein bei dieser Variante ist, hat der Künstler errechnet: es ergeben sich insgesamt 4096 Varianten (vgl. Kat. Ausst. M.M., Cubic Limit 1973-75, Gal. Weiller, Paris 1975, o.S.)
[19] Ein 11-dimensionaler Hyperwürfel besteht aus ca. 42.000 Würfeln
[20) Vgl. L. Sedofsky, Linienzüchter, in: Kat.Ausst. M.M., a.a.O., Bottrop 1998, 11
[21] Zit. n. Chr. Janecke, Geometrisch Reduziertes im Sortiment der künstlerischen Moderne, in: Kat. Ausst. strictly geometrical?, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen 2006, 12
[22] Zur Ablehnung des Computers siehe: Grant D. Taylor, The Machine that Made Science Art: The Troubled History of Computer Art 1963 -1989, Phil. Diss. University of Western Australia, Perth 2004, 50ff
[23] Manfred Mohr gehörte in den frühen 70er Jahren zu den erfolgreichsten Computerkünstlern seiner Zeit. Die Kritikerin Grace Hertlein bezeichnete ihn als einen 'der besten Computerkünstler', 'highly intellectual and scientific'. (Zit.n: Grant D. Taylor, a.a.O.,70).1971 wurden seine damals als algorithmische Werke bezeichneten Arbeiten in der weltweit ersten Einzelausstellung von Computerkunst im Pariser Musée d'art Moderne gezeigt, ein Beweis für den Avantgardestatus seiner Kunst und ihre aussergewöhnliche Konsequenz und ästhetische Qualität. Vgl. auch Marc Ries, Medien und Abstraktion, in: Kat.Ausst. Abstraction Now, Künstlerhaus Wien, Graz 2004, 28ff; Miguel Carvalhais, Code Acts, in: a.a.O., 46ff
[24] Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Maholy-Nagys telefonische Übermittlung von Anweisungen zur Herstellung eines Kunstwerks in den dreissiger Jahren.
[25] Zit.n. M. Dworschak, M.M. ist ein Purist unter den Computerkünstlern, In: Die Zeit, Nr. 42, 11.10.1996 (zit.n. WebSite von M.M.)
[26] Lida von Mengden, Crossover und Komplexität: Paradigmenwechsel im 21. Jahrhundert, in: Kat.Ausst. strictly geometrical?, a.a.O., 21; Vgl. Lev Manovich, Abstraktion und Komplexität, in: Kat.Ausst. Abstraction Now, Künstlerhaus Wien, Graz 2004, 38-44
[27] M.M., in: Kat. Ausst. M.M., Divisibility, a.a.O.
[28] Vgl. Lisa Randall, Theories of the Brane, in: Edge Foundation "The Third Culture", 2.10.2003 (WebSite Veröffentlichung): "In most versions of stringtheory the extra dimensions above the normal three are all wrapped up very tightly, so that each point in our ordinary space is like a tightly wrapped origami in six dimensions...If you look at a needle it looks like a one-dimensional line from a long distance, but really it's three-dimensional."



Copyright by Dr. Lida von Mengden, aus Ausstellungskatalog 'Manfred Mohr - broken symmetry', Kunsthalle Bremen 2007